"Ihr verkauft euch unter Wert" – welches Einstiegsgehalt Franz Wagner für Pfleger fordert

Herr Wagner, die Gehälter von Pflegekräften sind in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen, im Krankenhaus verdienen sie im Schnitt 3578 Euro brutto, in der Altenpflege 3291. Warum sind Sie damit nicht zufrieden? 

Naja, zum einen sind das Durchschnittswerte und mit großer Vorsicht zu genießen. Wer Teilzeit arbeitet, und das machen die meisten, auf dem Land lebt oder in den neuen Bundesländern, kommt niemals auf diese Summe. Zum anderen haben wir eine riesige Spreizung bei den Gehältern zwischen Krankenhäusern, Pflegheimen und der mobilen Pflege. Das können bis zu 900 Euro sein.   

Wie ist eine solche Spreizung zu erklären?  

Der wichtigste Grund ist, dass in Krankenhäusern größtenteils Tarifverträge gelten und sich die kirchlichen Träger zumindest an den Gehältern des öffentlichen Dienstes orientieren. In der Altenpflege ist das ganz anders. Dort gibt es viele private Betreiber und nur selten gelten Tarifverträge und wenn, dann eher schlechte. Und bei den größeren Unternehmen, das sind ja oft internationale, börsennotierte Konzerne, kommen die Renditeerwartungen dazu. Die sind knallhart. Da müssen im Jahr neun Prozent oder mehr übrigbleiben. Ja, wo soll’s denn herkommen? Dann sparen sie halt am Personal oder bei den Gehältern. 

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Würde ein Pflege-Tariftreue-Gesetz, wie Arbeitsminister Hubertus Heil es vorschlägt, helfen? Demzufolge sollen nur solche Anbieter einen Versorgungsvertrag mit den Kassen abschließen dürfen, die tarifliche Löhne zahlen. 

Das ist grundsätzlich ein sehr guter Vorstoß und ein Fortschritt. Bis vor wenigen Jahren durften Kassen Gehälter in Tariflöhne bei Betrieben ohne Tarifbindung sogar als 'unwirtschaftlich' ablehnen, das darf man nicht vergessen. Allerdings gibt es bei dem Vorschlag der Regierung die Einschränkung, dass die Gehälter auch 'ortsüblich' sein müssen. Das wird riesige Diskussionen geben. In Regionen, wo bereits schlecht gezahlt wird, verfestigen sich dann Niedriglöhne. 

Betroffen ist ja besonders die Altenpflege. Woher kommt ihr schlechtes Image? 

Die Altenpflege wurde fälschlicherweise lange als nicht so anspruchsvoll betrachtet, man dachte, naja, Rücken waschen, zur Toilette führen, Essen geben, was machen die denn sonst schon? Die Krankenhauspflege dagegen hat immer etwas vom Nimbus der Medizin.  

Dabei sind die Anforderungen an Altenpflege stark gestiegen, etwa um Demenzkranke adäquat zu betreuen oder Menschen mit multiplen chronischen Erkrankungen zu versorgen. Warum schlägt sich das noch nicht in den Gehältern nieder? 

Ein großes Hindernis ist sicherlich die Struktur der Pflegeheimfinanzierung. Die Bewohner zahlen einen Eigenanteil der Kosten für die Pflege, Ausbildungskosten und Investitionen. Zusätzlich zahlen sie Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Wenn eine Einrichtung mehr Pflegerinnen einstellt und sie besser bezahlt, schlägt das immer auf den Eigenanteil durch. Er erhöht sich. Deshalb wird auch diskutiert, da einen Deckel einzuziehen. 

Sie fordern ein Einstiegsgehalt für ausgebildete Pflegefachkräfte von 4000 Euro brutto. Wie begründen Sie das? 

Es gib eine interessante Studie zum Wert von Arbeit, die an der Universität Duisburg-Essen durchgeführt wurde. Um verschiedene Tätigkeiten arbeitswissenschaftlich miteinander vergleichen zu können, wurde dazu ein Index gebildet, der Comparable Worth Index. Darin fließen Anforderungen an die verschiedenen Berufe zusammen, beispielsweise Wissen und Können, physische Belastung, Verantwortung und so weiter. Der höchste Wert lag bei 32 Indexpunkten. Die Pflege landete bei 28 Punkten und befindet sich damit in derselben Kategorie wie beispielsweise ingenieurwissenschaftliche Berufe. Aber Ingenieure erhalten einen durchschnittlichen Stundenlohn von circa 28 Euro, die nicht-akademische Krankenpflege verdient knapp 16 Euro. Das sind 60 Prozent weniger. Aber ist denn Pflege so viel weniger wert als die Arbeit von jemandem, der in der Elektrotechnik arbeitet oder bei der Telekom?  

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Der Ingenieur stellt Maschinen her oder Autos, die man ins Ausland exportieren kann und so viel Geld verdient. Pflege kostet Geld, das von der Solidargemeinschaft aufgebracht werden muss.  

Das ist einerseits korrekt. Sie legen den Finger in eine Wunde. Arbeit, die von Frauen geleistet wird, fließt oft gar nicht erst ins Bruttoinlandsprodukt ein, wie etwa Hausarbeit. Aber, wenn ich mal diese Sprache kurz verwenden darf, auch durch Pflege wird etwas 'produziert': nämlich Gesundheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Ein Pflegeheim ist immer die teuerste Form der Versorgung. Wenn ich genügend Personal im Krankenhaus und bei den mobilen Pflegediensten habe, kann ich es verhindern, dass alte Menschen dort überhaupt hinkommen. Und je mehr Zeit Pfleger haben, etwa einen frisch operierten Patienten anzuleiten und mit ihm zu üben, damit er wieder auf die Beine zu kommt, desto schneller wird er gesund und kann zurück in seinen Betrieb. Deshalb ist Pflege aus meiner Sicht immer eine Investition. Ein Teil ihres Wertes ist allerdings nicht in Euro zu messen – das ist die Lebensqualität, die sie Patienten zurückgibt.   

Sie sind durch Ihre Arbeit auch international gut vernetzt. Was verdienen die Kolleginnen in anderen Ländern? 

Das ist sehr unterschiedlich. In den Niederlanden, Skandinavien, Neuseeland und den USA verdienen sie deutlich mehr. Es kommt natürlich immer auch auf die Spezialisierung an. Der Personalmangel bei Pflegern ist allerdings ein globales Problem. Deshalb versuchen viele Länder die Arbeitsbedingungen attraktiver zu machen, um ganz konkret diesen Mangel zu beheben. 

Normalerweise steigen die Preise, wenn es einen Mangel gibt. Warum greift dieser marktwirtschaftliche Mechanismus nicht in der Pflege?  

Weil die Trägerinnen des Mangels nicht so mobil sind. Gerade auf dem flachen Land. Pflege ist ein Frauenberuf, man hat ein Haus gebaut, eine Familie gegründet. Da nimmt man nicht für 100 Euro mehr die Autofahrt in die nächstgrößere Stadt auf sich, wenn man jahrelang mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren konnte. In Großstädten sieht das anders aus. Da herrscht ein viel härterer Wettbewerb. Große Kliniken zahlen bei Vertragsabschluss 'Fangprämien' von 4000 Euro oder mehr gerade bei sehr nachgefragten Qualifikationen wie der Intensivpflege. Das ist wie ein Antrittsgeld. 

Könnten Pflegekräfte also viel mehr verdienen, wenn sie es nur fordern würden? 

Ja! Ich sage immer, ihr seid eigentlich Diamanten, ihr verkauft euch unter Wert, ihr müsst das einfordern. Aber das fällt Pflegenden grundsätzlich schwer. Sie denken nicht in diesen Marktgesetzen. 

Aber schenken wird ihnen das Geld auch niemand. Warum streiken die Pflegenden nicht? 

Das hat etwas mit der beruflichen Sozialisation zu tun. Wenn im Krankenhaus gestreikt wird, sind die Pflegenden die Letzten, die gehen. Wobei mir Kollegen von der Gewerkschaft sagen, dass eine heutige Normal-Besetzung auf einer Station im Krankenhaus inzwischen niedriger ist als eine Notbesetzung im Falle eines Streiks vor 20 Jahren. Solche Notbesetzungen sollen ja sicherstellen, dass eine Mindestversorgung von Patienten gesichert ist. Die Zahl der Pflegenden in Relation zu den Patienten ist so stark gesunken, dass sie in einer Dauer-Notbesetzung arbeiten. Wenn in einer solchen Situation Pflegende streiken würden, hat jemand womöglich Schmerzen oder fällt aus dem Bett und niemand kümmert sich. Es ist ja nicht so, als würde man eine Maschine abstellen, auf die Straße gehen und streiken und abends sind 1000 Autos weniger produziert. Es geht um das Wohl von Menschen. Pflegende sind deshalb auch ein Stück weit erpressbar.    

Würde mehr Geld allein reichen, um den Beruf attraktiver zu machen? 

Nein. Wenn wir Pflegende fragen, was sie sich am meisten wünschen, steht an erster Stelle: Wir wollen mehr Kolleginnen und Kollegen auf den Stationen haben und weniger Patienten, weniger Bewohner versorgen müssen. Das zweite ist mehr Anerkennung. Damit meinen sie nicht den Applaus, der ihnen während der ersten Corona-Welle gespendet wurde, sondern dass ihre Kompetenz anerkannt wird. Ihre Fähigkeiten, Positives zu bewirken. Und dass sie überhaupt die Möglichkeit dazu bekommen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. An dritter Stelle steht dann aber immer das Geld.  

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