Reden heilt den Krebs nicht, hilft aber

Jeder zweite Mensch erkrankt im Laufe seines Lebens an Krebs. Zwar bedeutet die Diagnose schon lange nicht mehr immer ein Todesurteil, Ängste löst sie dennoch aus. „Werde ich leiden?“, „Verliere ich meine Arbeit?“ oder „Muss ich mich verabschieden?“ Mitunter werden die Sorgen so groß, dass die Betroffenen oder ihre Angehörigen deshalb Hilfe brauchen.

Psychoonkologie nennt sich die Disziplin, die das psychische Befinden von Krebspatienten in den Mittelpunkt stellt. Anja Mehnert-Theuerkauf, Inhaberin des Lehrstuhls für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Leipzig, forscht seit vielen Jahren zur Wirksamkeit der Sparte. „Mehrere Studien haben gezeigt, dass psychologische Interventionen, die auf Krebspatienten zugeschnitten sind, die Lebensqualität deutlich messbar verbessern“, sagt Mehnert-Theuerkauf. „Wir wissen sehr genau darüber Bescheid, was die Patienten belastet und wie sie ihre Krankheit verarbeiten.“

Der Bedarf ist groß: Jeder zweite Krebspatient fühlt sich Untersuchungsergebnissen von Mehnert-Theuerkauf zufolge durch seine Krebsdiagnose belastet. Die Betroffenen sind erschöpft, traurig oder fühlen sich leer und können schlecht schlafen. Rund 30 Prozent aller Krebspatienten leiden sogar unter schwerwiegenderen psychischen Problemen wie Angst- und Anpassungsstörungen oder Depressionen, die dauerhaft behandelt werden müssen. Zwei Drittel dieser Patienten litten den Ergebnissen zufolge allerdings bereits unter der Erkrankung, bevor sie die Krebsdiagnose erhielten.

Ländliche Regionen im Nachteil

Doch auch viele psychisch gesunde Krebspatienten haben oftmals Gesprächsbedarf. Sie müssen Rückschläge bei der Behandlung verarbeiten, akzeptieren, dass sie eventuell bei der Wiedereingliederung in den Beruf nicht mehr so leistungsfähig sind wie vor der Erkrankung, oder – wenn Schuldgefühle sie plagen – dass der eigene Lebenswandel oder eine genetische Disposition der Auslöser für die Erkrankung oder eine Vererbung an die Kinder sein könnten. Dafür bieten viele Kliniken eine flexible, punktuelle Versorgung an, im Durchschnitt mit fünf Terminen.

„Im Vergleich zu vor zwanzig Jahren hat sich die Versorgungslage extrem verbessert“, sagt Anja Mehnert-Theuerkauf. „Trotzdem ist noch viel Luft nach oben, vor allem in ländlicheren Gebieten.“ Diese Einschätzung bestätigt ein gerade veröffentlichtes Gutachten, das ein Team des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstellt hat.

Das Gutachten, das auf Daten des Jahres 2016 basiert, bezeichnet die aktuelle Versorgungslage in der Psychoonkologie allgemein als gut. Abseits der universitären Standorte wird es allerdings oft eng, so das Ergebnis. Die Autoren weisen darauf hin, dass etwa ältere Menschen oder Migranten ohne ausreichende Deutschkenntnisse benachteiligt werden. Außerdem müsse das ambulante Angebot in Zukunft verstärkt ausgebaut werden.

Frauen nehmen das Angebot öfter an als Männer

Tatsächlich hat sich vor allem in den Kliniken seit 2003 viel getan. Damals startete die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) mit der Zertifizierung der ersten Brustkrebszentren, um eine qualitativ hochwertige Behandlung zu fördern. Die psychoonkologische Versorgung gehörte als Kriterium von Anfang an dazu.

Mit der Zeit folgte die Anforderung auch für alle anderen Tumorerkrankungen. Ende 2018 gab es in Deutschland über 420 Kliniken, die ein Zertifikat der DKG erhalten hatten. Nach Schätzungen der DKG kommen demnach rund 40 Prozent aller Patienten zu Erstbehandlungen in eine zertifizierte Klinik. Wie sich die psychoonkologische Versorgung für die nicht in zertifizierten Zentren behandelten Krebspatienten darstellt, ist datenmäßig nicht erfasst.






Konkret gibt die Zertifizierung vor: Alle Patienten dürfen ein Beratungsgespräch von mindestens 25 Minuten in Anspruch nehmen. Je nach Ergebnis empfiehlt der Therapeut eine weiterführende Diagnostik oder Behandlung. Rund 58 Prozent der Frauen, die in Brustkrebszentren behandelt wurden, nahmen der DKG zufolge dieses Angebot an. Bei Männern mit Prostatakrebs lag die Rate hingegen nur bei 23 Prozent.

Die Ängste sind unterschiedlich

Mögliche Erklärungen für diesen Unterschied: Frauen stehen psychosozialen Angeboten generell aufgeschlossener gegenüber als Männer. Laut Experten scheinen betroffene Männer Prostatakrebs zudem oft als weniger bedrohlich wahrzunehmen als Frauen ihren Brustkrebs. Statistisch bestätigt sich das nur sehr begrenzt: Das Zentrum für Krebsregisterdaten zählte im Jahr 2014 17.670 Sterbefälle, die auf Brustkrebs zurückzuführen waren. Die relative Zehn-Jahres-Überlebensrate von Patientinnen lag bei 82 Prozent. Im selben Jahr verstarben 13.704 Männer an Prostatakrebs bei einer Zehn-Jahres-Überlebensrate von 90 Prozent.

In den Kliniken übernehmen in aller Regel sogenannte Liaisondienste die Betreuung der Patienten. Am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck leitet Anna Westermair die Psychoonkologische Ambulanz. Zu ihrem Team gehören 15 Kollegen, allesamt Psychotherapeuten mit einer entsprechenden Fortbildung.

Die Therapeuten gehören unterschiedlichen Kliniken an, die Krebspatienten behandeln. Laut Westermair hat sich dieses Konzept bewährt, da sich die Psychotherapeuten so schnell in die medizinischen Hintergründe der spezifischen Erkrankungen einfinden können. Denn bei Krebspatienten treten neben allgemeinen psychischen Symptomen wie Zukunftsangst auch spezifische auf: Ein Mann mit Prostatakrebs fürchtet möglicherweise Inkontinenz, eine Frau mit Brustkrebs hat Angst vor der Amputation, ein Patient mit Dickdarmkrebs vor einem künstlichen Darmausgang.

Neben Tumorzentren und Reha-Kliniken, in denen psychoonkologische Angebote obligatorisch sind, bieten auch vereinzelt niedergelassene Psychotherapeuten onkologische Unterstützung. Das Gros der Hilfesuchenden in diesem Bereich wird jedoch über die ambulanten Krebsberatungsstellen abgedeckt, die sich auch um die Angehörigen von Krebspatienten kümmern.

Denn Studien zeigen, dass sich die Partner und Familien der Erkrankten teilweise stärker psychisch belastet fühlen als die Erkrankten. Eine Arbeitsgruppe des seit 2008 existierenden Nationalen Krebsplans ist momentan dabei, Empfehlungen zur künftigen Finanzierung der Krebsberatungsstellen zu erarbeiten. Möglicherweise könnten diese über eine Regelfinanzierung gesichert werden.

Für das stationäre Angebot ist eine solche Lösung nicht so bald zu erwarten. Bislang müssen die Zentren die Kosten für das psychoonkologische Angebot selbst aufbringen, es gibt dafür keine zusätzliche Finanzierung durch das Gesundheitswesen. Anja Mehnert-Theuerkauf sieht das als eine Hürde für die Ausweitung der Versorgung, speziell in den sowieso schon schlechter ausgestatteten ländlichen Gebieten. Das Gutachten bestätigt diese Einschätzung.

Kleinere Krankenhäuser tun sich schwer damit, entsprechende Gelder, die häufig aus Spenden stammen, aufzubringen. Universitätskliniken in größeren Städten sind da im Vorteil. Das benachteiligt Patienten aus diesen Regionen gleich doppelt. Eine Situation, die nicht sein müsste. Erst recht nicht, da es sich im Durchschnitt nur um fünf Termine handelt, die Betroffene während ihrer Erkrankung in Anspruch nehmen.

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