Angst vor Atom

Kaliumiodid sollte nur eingenommen werden, wenn die Behörden dazu aufrufen

Um es gleich vorwegzunehmen: Nein, Sie müssen sich jetzt nicht in der Apotheke mit einem Vorrat an Jodtabletten eindecken. Und Sie sollten die Pillen auch nicht vorsorglich einnehmen. Beides ist aus mehreren Gründen sinnlos.

Apothekerinnen und Apotheker berichten derzeit von einer erhöhten Nachfrage nach Jodtabletten. Selbst bei der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker versuchen die Menschen zu erfahren, wie sie an die Mittel kommen, wie Martin Schulz, Vorsitzender der Kommission, dem SPIEGEL sagt. Einige Präparate seien auch beim Großhandel schon nicht mehr verfügbar.

Kein Anlass für die Einnahme von Jodtabletten

Hinter der großen Nachfrage steckt offenbar die seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine gestiegene Angst vor radioaktiver Strahlung. Schon wenige Tage nach der Invasion verkündete Russlands Präsident Wladimir Putin, die Atomstreitkräfte Russlands in Alarmbereitschaft zu versetzen. Auch mit dem Angriff russischer Truppen auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja in der Nacht zu Freitag dürfte die Sorge vor radioaktiver Strahlung nicht geringer geworden sein.


Die Einnahme von hoch dosierten Jodtabletten, konkret Kaliumiodid-Pillen, soll im Fall eines nuklearen Unfalls verhindern, dass radioaktives Jod in der Schilddrüse eingelagert wird, indem die Schilddrüse mit nicht radioaktivem Jod gesättigt wird. Man spricht dabei von einer Jodblockade.

Trotzdem muss sich nun niemand vorsorglich diese Tabletten besorgen. Radiologische Auswirkungen des auf dem Gelände des Atomkraftwerks ausgebrochenen und mittlerweile gelöschten Feuers auf Deutschland seien nach dem Stand der verfügbaren Informationen nicht zu befürchten, hieß es am Freitagmorgen vom Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Einen Anlass für die Einnahme von Jodtabletten gibt es nach Angaben des Bundesumweltministeriums derzeit nicht.

Darüber hinaus lagert in den Bundesländern ein Vorrat von 189,5 Millionen Kaliumiodid-Tabletten. Sollte erwartet werden, dass radioaktives Jod in die Luft gelangt, werden die Tabletten mithilfe der Katastrophenschutzbehörden der Länder in den möglicherweise betroffenen Gebieten verteilt. Bezahlen müssen die Bürgerinnen und Bürger dafür nichts. Das heißt auch: Eine Verteilung der Tabletten bedeutet nicht unbedingt, dass das Mittel auch sofort eingenommen werden soll. Darüber informieren dann die Behörden.

Die vorsorgliche Einnahme kann sogar schaden

Denn der richtige Zeitpunkt für die Einnahme der Tabletten wäre entscheidend für die Wirkung der Jodblockade. Das Jod in der Schilddrüse wird kontinuierlich ausgetauscht. »Werden die Tabletten zu spät eingenommen, kann sich schon radioaktives Jod in der Schilddrüse eingelagert haben«, erklärt Schulz. »Wird das Kaliumiodid zu früh eingenommen, kann es schon wieder ausgeschieden worden sein, wenn das radioaktive Ereignis eintritt.« Es bringt also auch nichts, vorsorglich, aus Angst vor einem möglichen Vorfall, die Tabletten zu schlucken.

Das kann sogar gesundheitsschädlich sein, weshalb Fachleute dringend davor warnen. »Eine Selbstmedikation mit hoch dosierten Jodtabletten birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, hat aktuell aber keinen Nutzen«, schreibt das BfS. Der Beipackzettel der Kaliumiodid-Tabletten listet als mögliche Nebenwirkungen allergische Reaktionen oder eine jodbedingte Schilddrüsenüberfunktion auf, die mit Symptomen wir Schweißausbrüchen, Durchfall oder Gewichtsabnahme einhergehen kann.


Hinzu kommt: Die Einnahme von Jodtabletten schützt ausschließlich vor der Aufnahme von radioaktivem Jod in die Schilddrüse, nicht vor der Wirkung anderer radioaktiver Stoffe wie Strontium oder Cäsium.

Und selbst im Fall eines radioaktiven Ereignisses wäre es nicht für alle Menschen sinnvoll, Kaliumiodid zu schlucken. Wegen der Entwicklung und Empfindlichkeit der Schilddrüse seien Kinder und Jugendliche die Hauptzielgruppe, heißt es auf der vom Bundesumweltministerium betriebenen Website jodblockade.de. Auch schwangere und stillende Frauen sollen das Mittel nehmen – aber eben nur im Ernstfall, wenn die Behörden es empfehlen.

Menschen über 45 Jahre hingegen sollen laut den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission keine Jodtabletten einnehmen. Mit dem Alter nehme die Wahrscheinlichkeit, an durch ionisierende Strahlung verursachtem Schilddrüsenkrebs zu erkranken, stark ab, heißt es. Außerdem treten in dieser Altersgruppe häufiger Stoffwechselstörungen der Schilddrüse auf. Diese sogenannte funktionelle Autonomie erhöhe die Gefahr von Nebenwirkungen einer Jodblockade.

Auch niedrig dosierte Präparate werden gehamstert

Die aktuell hohe Nachfrage an Jodtabletten betrifft allerdings nicht nur das für die Jodblockade eingesetzte Kaliumiodid. Martin Schulz berichtet, dass auch die mit 0,1 oder 0,2 Milligramm deutlich niedriger dosierten Präparate, die Menschen einnehmen, die unter einem Jodmangel leiden, deutlich mehr gekauft würden. Zum Vergleich: Eine Kaliumiodid-Tablette enthält 65 Milligramm. Je nach Alter wird für eine Jodblockade die Einnahme von einer viertel Tablette bei Säuglingen bis zu zwei Tabletten bei Jugendlichen und Erwachsenen bis 45 Jahre empfohlen.

Es mache also keinen Sinn, sich jetzt die normalen, niedrig dosierten Tabletten zu besorgen, wenn man nicht an einem Jodmangel leide. »Für eine wirksame Jodblockade müsste man davon Hunderte Tabletten nehmen. Allein das würde unglaubliche Magenschmerzen auslösen«, erklärt Schulz. Hamsterkäufe, wie sie derzeit stattfinden, hätten Apothekerinnen und Apotheker auch bei anderen Medikamenten zu Beginn der Coronapandemie beobachtet. Dadurch drohe jedoch, dass die Menschen, die auf die Mittel angewiesen sind, in ihrer Apotheke keine Jodtabletten mehr bekommen.

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