Treten Sie endlich wieder in die Pedale! Sportmediziner räumt mit E-Bike-Irrtum auf

Alle Welt spricht von Bewegungsmangel, der schlimme Krankheiten zur Folge hat. Das muss sich ändern. Ein Lösungsansatz ist naheliegend: Wir sollten alle wieder selber in die Pedale treten, statt auf motorisierte Unterstützung in Form von E-Bikes zu setzen, sagt Sportmediziner Matthias Marquardt.

Heute ist es wieder mal passiert. Ich radele friedlich unterhalb der Schwitzgrenze, die bei mir bei etwa 23 km/h liegt, in die Praxis, als mich ein E-Bike überholt. Schön eingepackt in Windjacke und Mütze, aufrechtsitzend mit einer Trittfrequenz, die keinen großen Einsatz vermuten lässt, surrt jemand mit 25 km/h (ab hier werden die Pedelecs, wie sie korrekt heißen, abgeregelt) an mir vorbei. Das könnte einem egal sein, aber auch mit Yoga und Kamillentee am Vorabend geht mir das entschieden zu weit. Ich trete an, muss schneller sein, vergesse dabei sogar die Schwitzgrenze und keuche in die Praxis. Warum? So ein schwaches Ego, der Marquardt? So kleingeistig? Das mögen andere beurteilen, aber das E-Bike trifft bei mir einen empfindlichen Nerv.

Alle Welt spricht vom bedrohlichen Bewegungsmangel, der sich einer Seuche gleich verbreitet. Die Folgen: Fettleber, Depressionen, Übergewicht, Diabetes und eine geringere Lebenserwartung. Weiß ja eigentlich jedes Kind. Was sich hingegen erst noch rumsprechen muss: Inzwischen sterben mehr Menschen an zu vielem Sitzen als am Rauchen. Am Esstisch, im Auto, am Schreibtisch, vor dem Fernseher – wir sitzen uns den Hintern platt. Man müsste das ändern, ja. Aber wie nur? Verblüffend einfache Idee: Gehen Sie in den Keller, pumpen Sie Ihren alten Drahtesel auf und fahren Sie damit zur Arbeit!

Dori Fischl/BurdaForward

Über den Experten

Matthias Marquardt hat die „Laufbibel“ geschrieben, ist in der Laufszene als „Laufpapst“ bekannt und betreut als Sportinternist und Spezialist für Laufverletzungen Patienten aus ganz Deutschland in seiner Praxis für „Sport & Check-up“ in Hannover. Der begeisterte Triathlet duscht Sommer wie Winter im Garten und schwimmt gerne im Mittellandkanal, an dem er mit seiner fünfköpfigen Familie lebt. Der RunnigDoc schreibt auf FOCUS Online über Gesundheit, Bewegung und das Leben als Sportarzt.

Die Vorbereitung ist entscheidend – oder?

Das wäre einfach und zweckmäßig. Passiert aber nicht. Und das ist es, was mich am E-Bike so aufregt: Dieses Reintappen in die Konsumfalle, die am Ende alles nur noch schlimmer macht. Man nennt es den „Ressourcenansatz“. Kenne ich aus der täglichen sportmedizinischen Sprechstunde nur zu gut. Bevor ein Patient, dem Joggen sichtlich guttäte, das Training realistisch ins Auge fassen kann, braucht er: Schuhe (200 Euro), Laufjacke (150 Euro), Hose und Shirt (200 Euro), Sportuhr (150 Euro) und, ohne das geht es auf keinen Fall, eine Stirnlampe (50 Euro). Erst wenn künftiger Elektroschrott und Kunststofffasern für mindestens 500 Euro den Besitzer gewechselt haben, kann das Lauftraining beginnen. Theoretisch zumindest. Denn dummerweise ist das Sofa oft doch wieder bequemer.

Beim E-Bike ist es der „Ressourcenansatz XXL“. Während vor der E-Bike-Ära die Radhändler beklagten, dass hochwertige Räder nur noch selten gekauft wurden und stattdessen der Trend zum (im Defektfalle irreparablen) 249-Euro-Drahtesel ging, werden für ein E-Bike gerne 1500 Euro ausgegeben. Allerdings mal zwei, denn wenn die First Lady künftig elektrisch radelt, muss der Gemahl natürlich mithalten können – und so kann man dankenswerterweise noch mehr Geld ausgeben. Erst wenn der Einkauf getätigt ist, kann an Radfahren gedacht werden. Um dann festzustellen, dass es morgens im November doch eher bedeckt und kühl draußen ist. Es könnte Regen geben. Radfahren ist jetzt leider doch nicht drin.

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Keiner tauscht Auto gegen E-Bike

Aber damit ist die Geschichte des E-Bikes eben nicht erzählt, damit fängt die Litanei an Rechtfertigungen, Schein- und Totschlagargumenten erst an. Das E-Bike darf nämlich aus einem einfachen Grund schon mal grundsätzlich nicht kritisiert werden, ermöglicht es doch Menschen mit körperlichen Einschränkungen die Teilhabe. Grenzwertig, wer da einfach behauptet, dass es grundsätzlich besser wäre, Menschen würden mehr trainieren. Zu Beginn der E-Bike-Ära dachte man, dass eigentlich nur noch Asthmatiker und Herzkranke Rad fahren.

Und die Erkenntnis, dass für E-Bikes sehr viel Elektroschrott produziert wird, den wir ohne E-Bike niemals gehabt hätten, ist natürlich auch der allgemeinen Greenwashing-Verblödung zum Opfer gefallen. Denn selbstverständlich ist jede Strecke, die man nicht mit dem Auto fährt, ein riesiger Gewinn für die Umwelt. Dass kaum einer sein Auto abschafft, dass das E-Bike meist nur bei Sonne genutzt wird, dass der Akku unter Aufwendung seltener Erden und großem Energieaufwand produziert und eines Tages entsorgt werden muss und dass der Strom nicht aus der Steckdose kommt, ist natürlich alles nur kritisches Gewäsch von Fortschrittverweigerern.

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Jedes bisschen Bewegung ist besser als nichts

Am Ende siegt ein von der Industrie über Jahre geschickt erschaffenes Weltbild von gesunder, ökologischer Elektromobilität, in dem man schon ganz schön blöd sein muss, wenn man sich mit Muskelkraft abrackert, um von A nach B zu kommen. Verschwörungstheorie? Ist der Kolumnisten ein Aluhut-Träger? Nun, was soll man anderes sagen, wenn eine Industrie es schafft ein Produkt als segensreiche Unterstützung für Kranke und Gebrechliche zu etablieren, es über unzählige Berichte salonfähig macht und am Ende schafft, sogar Mountainbike-Wettbewerbe in einer E-Bike-Klasse ausrichten zu lassen. Das E-Bike ist jetzt also auch etwas für Sportler. Das nenne ich mal Zielgruppenerweiterung. Chapeau!

Der E-Biker hat aber noch ein ultimatives Totschlagargument: Alles, also jede Kurbelumdrehung, ist immer noch besser als gar nichts. Wie das bei Totschlagargumenten so ist, kann man schwer etwas entgegnen, denn gerade ich als Sportinternist weiß, dass tatsächlich jedes bisschen an Bewegung zählt. Was ich aber auch weiß: Menschen erwarten durch die verheißungsvollen Medienberichte schon durch geringste körperliche Aktivitäten große gesundheitliche Effekte auf ihr Gewicht, ihr Cholesterin und ihre Blutzuckerwerte. Die bleiben aber aus, wenn jemand an der Grenze zum Diabetes mellitus dienstags 30 Minuten spazieren geht und sonntags 30 Kilometer mit dem E-Bike cruist. Let’s face it: Er oder sie wäre klug beraten, einfach auf seinem alten Drahtesel selber zu treten. Aber wir Menschen sind nun mal von Natur aus Faultiere, tendieren stets und fast automatisch zum Weg des geringsten Widerstands. Die nächstgrößere Akku-Unterstützung ist da schnell gewählt. Und schließlich wiegt so ein E-Bike ja auch 25 Kilo, da braucht es bergauf schon mal die Unterstützung, die man sonst ja eigentlich nie benutzt.

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  • Das Gesunde am E-Bike-Fahren ist vor allem die frische Luft, die einem dabei um die Nase weht. Denn Fahrradfahren gehört eh nicht zu den Spitzenreitern, was den Energieumsatz während der Bewegung anbelangt. Sie müssen für den Energieverbrauch von einer Stunde Joggen schon locker zwei Stunden Radfahren. Das tut schon kaum jemand. Wenn dann noch die Unterstützung des Akkus dazukommt, können auch schnell 3-4 Stunden Aktivität erforderlich sein, um eine Stunde Joggen zu ersetzen. Dumm gelaufen, wenn der stolze E-Biker im Radtrikot sich dann noch eine extra Kugel Eis als Dessert gönnt!

    Treten Sie in die Pedale!

    Aber der gesellschaftliche Trend und seine oft verdrängten negativen Auswirkungen scheinen mal wieder unaufhaltsam. Das E-Bike ist dabei der unrühmliche Vorläufer der stromfressenden E-Roller, die ich morgens, wenn ich zur Attacke auf die E-Bikes ansetze, links und rechts in Straßengräben und auf Gehwegen herumliegen sehe. E-Bikes und E-Roller sind für mich Spaßmobile. Wenn’s regnet und ich in der dunklen Jahreszeit morgens um 7.30 Uhr mit Regenkluft und Überschuhen starte, dann bin ich auf den Radwegen sowieso fast allein. Und die, die mir begegnen, haben meist ein gerittenes Trekkingrad, gute Regenkleidung und einen Nabendynamo, statt eines Akkus.

    „Erschöpft: Warum uns allen die Kraft ausgeht – und was wir dagegen tun können“ von Matthias Marquardt

    Vielleicht bin auch ich ganz am Ende des Tages inkonsequent, denn die vielleicht etwas philosophische Diskussion, dass ich mir das Leben mit meinem flotten Trekkingrad mit 30-Gängen leichter mache als auf einem Nachkriegsdamenrad ohne Gangschaltung, wäre durchaus statthaft. Ein modernes Trekkingrad ist erlaubt, der Motor aber nicht? Touché. Für mich bleibt es aber eine Frage des Mindsets: Wer seiner Gesundheit, seiner Geldbörse und der Umwelt etwas Gutes tun möchte, steigt auf ein motorloses Fahrrad.

    Sie lieben Ihr E-Bike und es macht Ihnen Spaß damit zu fahren? Dann tun Sie das gerne weiter. Tatsächlich gilt ja: Hauptsache Sie bewegen sich. Ignorieren Sie einfach diesen keuchenden, nicht mehr ganz jungen Mann, der Sie morgens um 7.30 Uhr unbedingt überholen muss. Er ist auch nur ein Mensch mit seinen Schwächen.

    Tipps vom Running-Doc

    • Tipp 1: Sie müssen zwei Stunden Radfahren, um auf den gleichen Energieverbrauch zu kommen wie bei einer Stunde Joggen. Das E-Bike macht’s nicht besser!
    • Tipp 2: Sparen Sie Geld, schützen Sie die Umwelt und bleiben Sie fit und gesund. Treten Sie einfach selber!
    • Tipp 3: Sie wollen täglich mit dem Rad zur Arbeit fahren? Erste Maßnahme: Regenklamotten und Überschuhe gut sichtbar im Flur deponieren. Wenn Sie bei Nieselregen nachdenken, ob Sie mit dem Rad fahren, haben Sie schon verloren! Viel Erfolg!

    Noch mehr von unseren Experten

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