Neues Klassifizierungssystem: Forscher wollen Übergewicht als eigenständige Krankheit einstufen

Bluthochdruck, ein erhöhtes Krebsrisiko, Diabetes – starkes Übergewicht, das auch als Fettleibigkeit oder Adipositas bezeichnet wird, erhöht das Risiko für mehr als 60 Folgeerkrankungen.

Trotzdem sind sich Experten weltweit weiterhin uneinig darüber, ob starkes Übergewicht als eigenständige Krankheit zählen sollte.

Wissenschaftler der Obesity Society, der weltweit führenden Fachgesellschaft zur Erforschung, Behandlung und Prävention von Adipositas, schlagen daher jetzt ein neues Klassifizierungssystem vor.

Das neue System soll Übergewicht als Krankheit besser einordnen und wurde kürzlich in dem Fachjournal ‚Obesity‘ vorgestellt.

BMI spiegelt die Auswirkungen von Übergewicht nicht wider

Die Deutsche Adipositas Gesellschaft (DAG) definiert Übergewicht als eine überdurchschnittliche Vermehrung des Körperfetts, die über das Normalmaß hinausgeht-

Das Normalmaß wird über diesen Body-Mass-Index bestimmt – auch die Diagnose von Fettleibigkeit basiert derzeit ausschließlich auf dem BMI.

Dieser darf aber nur als grober Richtwert gesehen werden, denn Statur und die individuelle Zusammensetzung des Fett- und Muskelgewebes werden nur minimal berücksichtigt.

Bisher konnte dieser Wert zudem keinen Hinweis auf die Auswirkungen übermäßiger Adipositas auf die Gesundheit einer betroffenen Person geben. Auch der derzeit angewendete ICD-Code (International Classification of Diseases) gibt nur die Möglichkeit, Fettleibigkeit aufgrund von übermäßigen Kalorien zu diagnostizieren.

Dies ist nach Ansicht der Obesity Society medizinisch nicht sinnvoll und spiegelt zudem keine Entstehung oder Entwicklung der Adipositas wider.

Fettleibigkeit soll genauer klassifiziert werden

Laut den Wissenschaftler der Obesity Society soll das neue System auf einer umfassenden Grundlage für die klinische Intervention sowie auf individualisierten Behandlungszielen und einem personalisierten und abgestimmten medizinischen Ansatz basieren.

Dabei soll die neue Klassifizierung vier Bereiche abdecken – die pathologische Physiologie, den Body-Mass-Index (BMI) sowie das Vorhandensein und die Schwere von Komplikationen.

So soll erreicht werden, dass Ärzte und Betroffene genauer festlegen können, was überhaupt behandelt wird und warum.

Dr. W. Timothy Garvey, Professor für Ernährungswissenschaften und Direktor des Diabetes Research Center an der Universität von Alabama in Birmingham erklärt gegenüber ‚EurekAlert!‘ die Vorteile des neuen Systems.

„Die Kodierung spiegelt wider, was wir behandeln und warum wir es behandeln und wird hoffentlich Impulse für einen besseren Zugang der Patienten zu evidenzbasierten Behandlungen geben.“

Individuelle Diagnosen sollen unterstützt werden

Als neuen Überbegriff für Erkrankungen, die auf starkem Übergewicht basieren, schlagen die Wissenschaftler Adipositas-basierte chronische Erkrankung (ABCD) vor.

Dieser diagnostische Begriff beinhaltet sowohl die Pathophysiologie (die Lehre von krankhaften Veränderungen am Körper, sowie die Lehre von Funktionsweisen des Körpers) als auch die klinischen Auswirkungen von Fettleibigkeit als chronische Krankheit und soll die klinischen Bemühungen, individuelle Diagnosen mit einer höheren Genauigkeit vorzunehmen, unterstützen.

Die American Association of Clinical Endocrinologists (AACE) und die European Association for the Study of Adipositas (EASO) übernahmen das Konzept von ABCD bereits.

„Es ist von entscheidender Bedeutung, die Intensität der Therapie an den Schweregrad und an die Pathophysiologie der Krankheit anzupassen“, unterstreicht Karl Nadolsky, Vorsitzender des staatlichen Netzwerks für Ernährung und Adipositas bei AACE.

Neuet Ansatz benötigt hohes Maß an Aufklärung

Dr. Jamy Ard, Professor für Epidemiologie und Prävention an der Wake Forest School of Medicine, sieht die größte Schwierigkeit in der Umsetzung des neuen Systems darin, dass Fettleibigkeit bisher mithilfe der einfachen BMI-basierten Diagnose unterdiagnostiziert wurde.

Er ergänzt: „Dieser fortschrittlichere Ansatz erfordert ein hohes Maß an Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit, um das Verhalten von Medizinern zu ändern.“

Gema Frühbeck, Erstautorin zum Thema ABCD erklärt: „Weltweit wird zunehmend anerkannt, dass der BMI und andere einfache Kennzahlen für Fettleibigkeit die Komplexität der Krankheit oder die Umstände der Patienten nicht genau widerspiegeln.

Der Vorschlag eines Klassifizierungssytems ist sehr zu begrüßen und erklärt Fettleibigkeit als eine auf Adipositas basierende chronische Krankheit. Es ist Zeit, dass Fettleibigkeit in die Ära der Präzisionsmedizin eintritt.“

Quellen

  • World Health Organization: International Classification of Diseases (ICD) Information Sheet, abgerufen am 25.02.2020 https://www.who.int/classifications/icd/factsheet/en/
  • Deutsche Adipositas Gesellschaft: Gesundheitsproblem Übergewicht, abgerufen am 25.02.2020 https://adipositas-gesellschaft.de/index.php?id=8
  • Obesity: Proposal for a Scientifically Correct and Medically Actionable Disease Classification System (ICD) for Obesity, abgerufen am 25.02.2020 https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/oby.22727
  • Semantic Scholar: The ABCD of Obesity: An EASO Position Statement on a Diagnostic Term with Clinical and Scientific Implications, abgerufen am 25.02.2020 https://www.semanticscholar.org/paper/The-ABCD-of-Obesity%3A-An-EASO-Position-Statement-on-Frühbeck-Busetto/c760fc313fff152c6d3d4ae1d7431ef92cddacc9

Antonia Hagedorn

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