„Ich muss der starke Paps sein“

Leni, 6, ist ein lebensfrohes Kind. Und obendrein sehr kontaktfreudig. Wenn sie mit ihrem Vater zum Einkaufen fährt, begrüßt sie die anderen Kunden im Laden. Am liebsten geht sie auf Kinder zu und schüttelt ihnen die Hand. Anderen ‚Hallo‘ zu sagen, macht sie glücklich. Doch für ihre Begrüßungen erntet sie oft abwertende Blicke. „Das bricht mir dann das Herz“, sagt ihr Vater.

Leni ist mit einem Gendefekt zur Welt gekommen. Die Wahrscheinlichkeit lag bei vier Prozent, hatte der Arzt gesagt. Ihr erstes Kind würde gesund zur Welt kommen, dachten Engelmann und seine Frau. Das kleine Töchterchen wog 3450 Gramm und war quietschfidel. Als die Ärzte allerdings den Verdacht auf das sogenannte 5p-Syndrom äußerten, brach für die frischgebackene Familie eine Welt zusammen. „Ab dem Moment als die Worte ‚geistige Behinderung‘ fielen, konnte ich dem Arztgespräch nicht mehr folgen“, berichtet Engelmann am Telefon.

Mit den Sorgen allein zu Hause

Scheinbar war Leni ein Baby wie jedes andere. Doch wenn sie weinte, klang es, als würde eine Katze schreien. Der Gendefekt, den das Mädchen für den Rest ihres Lebens begleiten wird, nennen Fachleute deshalb auch Katzenschrei-Syndrom oder Cri du Chat. „Davon hatten wir bis zu dem Zeitpunkt noch nie gehört“, sagt ihr Vater. Weil es zunächst nur ein Verdacht ist, führten die Ärzte mit dem Einverständnis der Eltern einen Bluttest durch.

Fast eine ganze Woche lang lebten Engelmann und seine Frau in ständiger Unsicherheit und Sorge um ihr Kind. Am schlimmsten waren für ihn die Abende, an denen er mit seinen Gedanken alleine zu Hause sitzen musste – während seine Frau und das Neugeborene in der Klinik blieben. „In diesen Momenten fühlte ich mich besonders hilflos“, berichtet Engelmann.

Die Diagnose bestätigt den Verdacht der Ärzte. „Das war ein Schlag ins Gesicht“, erinnert sich Engelmann. Schätzungen zufolge kommt eines von 50.000 Neugeborenen mit dieser Erkrankung zur Welt, Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen. Ursache ist eine genetische Veränderung am Chromosomenpaar 5. Die Kinder sind geistig behindert, sie haben einen kleineren Kopf und auch ihr Körper ist kleiner und leichter als der Gleichaltriger.

Andere Sorgen, andere Freuden

„Ist das Kind durch die Behinderung aus der Norm gerissen, stehen wir Väter plötzlich ganz alleine da“, sagt Engelmann. Seine Stimme stockt. Die Gesellschaft schiebt Frauen immer noch die Pflegerolle zu. Engelmann erlebt das seit der Diagnose immer wieder.

„Das komplette Pflegesystem ist auf Frauen ausgelegt“, beklagt er, „Man sah das im Kindergarten unserer Tochter: alles Kindergärtnerinnen, hin und wieder mal ein FSJler.“ Um seine Tochter kümmern er und seine Frau sich zwar gemeinsam, doch wenn es ums Gespräch bei Fachärzten oder Therapeuten geht, fühlt sich Engelmann als Vater alleingelassen.

Seinen Freunden und Bekannten, die Kinder im selben Alter wie Leni haben, kann er sich bis heute nicht anvertrauen. „Sie können meine Situation nicht verstehen.“ Das sei eine komplett andere Welt. „Meine Kumpel sorgen sich darum, welche Karriere ihre Kinder später machen werden oder wie der erste Freund der Tochter aussehen wird“, sagt Engelmann. Seine Gedanken kreisen dagegen um die Frage, ob seine Tochter sprechen und ohne Windeln leben können wird. Ihn beschäftigt viel mehr, ob Leni eines Tages ohne fremde Hilfe auskommen wird.

„Papas mit behinderten Kindern“

Neuerdings dreht sich im Kollegenkreis alles ums Thema Lego. Auch da kann Engelmann nicht mitreden. Denn obwohl seine Tochter bereits das Grundschulalter erreicht hat, spielt sie noch mit Holzspielzeug für Zweijährige. In solchen Momenten spürt Engelmann den gesellschaftlichen Druck, keine Schwäche zu zeigen. „Wir igeln uns dann meistens ein, weil wir dazu erzogen wurden“, sagt er. „Ich muss der starke Paps sein.“

Doch „Einigeln“ war auf Dauer keine Lösung. Engelmann musste sich jemandem anvertrauen. Jemandem, der sich mit seiner Situation auskennt. Lange ist er auf der Suche. Bei einer Familienkur vergangenen Februar schlägt ihm eine Psychologin vor, sich mit anderen Vätern zu vernetzen. Engelmann gründet eine Facebook-Gruppe.

Seit März tauschen sich die „Papas mit behinderten Kindern“ in der gleichnamigen Gruppe über alles Mögliche aus. Ohne Mitleidsbekundungen über sich ergehen zu lassen. Die Themen reichen von der Ernährung über Spielzeug bis zu Europaschlüsseln für Behindertentoiletten. „Man muss sich nicht immer erklären und kann über Pflege- und Alltagssituationen auch mal Dampf ablassen“, sagt er.

Zum Beispiel beim Thema Therapierad. Im Mai hatten Engelmanns bei der Krankenversicherung einen Antrag auf Kostenübernahme des Therapierads für Leni gestellt. Einen Monat später flatterte ein Brief ins Haus – mit einer Absage. Weil Leni nicht in der Lage ist, das Rad alleine zu bedienen, verweigert die Krankenkasse die Kostenübernahme. „Das ist ganz klar Diskriminierung“, ärgert sich Engelmann. Das Fahrrad sei schließlich für solche Fälle gedacht. Außerdem würden er und seine Frau Leni nie unbeaufsichtigt lassen – erst recht nicht mit einem Therapierad.

Staksige Schritte auf kurzen Strecken

Eine Fahrradtour muss wohl erst noch ein Wunsch bleiben. Und welche Träume gibt es noch? Stille in der Leitung. Fast könnte man meinen, die Verbindung wäre unterbrochen. Dann sagt Engelmann: „Wenn ich mit ihrer kleinen Schwester durch den Wald spaziere, dann muss die Große daheim bleiben. Das Schlimmste daran: Ich weiß, dass ihr so ein Spaziergang Spaß machen würde.“

Trotzdem ist Engelmann stolz auf seine Tochter, er schämt sich nicht. „Höchstens für die Leute, die die Problematik nicht verstehen.“ Leni hat bis heute mehr geschafft, als die Ärzte ihr zugetraut haben. Kurze Strecken bringt sie mit staksigen Schritten hinter sich. Ein Hindernis sind für sie Teppiche. Doch auch die überwindet sie hin und wieder. „Aber nur, wenn sie dabei abgelenkt ist“, sagt Engelmann. Um sich verständigen zu können, lernt sie gerade die Gebärdensprache. Engelmann hofft, dass sie die bald auch im Alltag benutzt, um mit anderen zu kommunizieren.

Love out loud

Auf emotionaler Ebene könne seine Tochter ihn unglaublich bereichern. Wenn Leni glücklich ist, dann zeige sie das – ganz unbefangen. „Sie lacht und freut sich, wenn sie mich sieht. Sie umarmt mich ganz oft, abends kuschelt sie auch mit mir“, erzählt Engelmann. „Viele behinderte Kinder haben extrem viel Liebe zu vergeben, weil sie ihren Emotionen freien Lauf lassen“, ist er überzeugt.

Der Vater weiß, dass es unwahrscheinlich ist, dass Leni eines Tages ohne fremde Hilfe auskommen wird. Trotzdem wünscht er seiner Tochter vor allem eines: „Ein selbst bestimmtes Leben.“

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