Die Hospitalisierungsrate ist jetzt die wichtigste Kennzahl in der Pandemie. Ist das ein Fehler?

Ein Höchststand jagt den nächsten. Auch am Montag meldete das Robert Koch-Institut (RKI) wieder unschöne Corona-Rekorde. Die Sieben-Tage-Inzidenz ist mittlerweile auf 386,5 geklettert. Ein Weg, der sich angedeutet hatte. Denn die Kurve zeigt seit Wochen steil nach oben, die Krankenhäuser füllen sich. "Ganz Deutschland ist ein einziger großer Ausbruch", so Lothar Wieler am Freitag in Berlin. Dem sonst eher bedachten RKI-Chef platzte letzte Woche der Kragen. Virologe Christian Drosten habe ja gesagt, er wolle nicht zu einem Papagei werden. "Ich bin schon lange ein Papagei", so Wieler. Eine Anspielung darauf, dass er sich ständig wiederholen müsse. Schließlich habe das Institut monatelang vor einer verheerenden vierten Welle gewarnt, bereits im Juli zur Booster-Impfung geraten. Es sei schwer für ihn zu ertragen, wie wenig die Tragweite gesehen worden sei.

Nun zeichnete er für den Winter ein düsteres Bild mit vielen Toten, forderte vehement ein schnelles Eingreifen und strikte Maßnahmen. Die Antwort der Politik: Was während der vergangenen Corona-Wellen die Inzidenz war, soll fortan die Hospitalisierungsrate sein. An ihr soll festgemacht werden, wann welche Maßnahmen greifen, da die reinen Fallzahlen wegen der Impfungen als nicht mehr so aussagekräftig gelten. Aber ist sie tatsächlich der richtige Indikator in der aktuellen Pandemie-Situation? Expert:innen sehen das kritisch. 

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Zu langsam, zu ungenau

Hinter der Hospitalisierungsrate steckt die Anzahl der Covid-19-Kranken, die ins Krankenhaus eingeliefert werden. Um die Daten der Regionen vergleichbar zu machen, werden die absoluten Zahlen in eine Inzidenz umgerechnet. Dafür werden die Fälle der zurückliegenden sieben Tage pro 100.000 Einwohner eines Wohnorts erfasst und ans RKI übermittelt. Sobald die Hospitalisierungsinzidenz die Schwellen 3, 6 und 9 überschreitet, greifen in dem jeweils betroffenen Bundesland strengere Maßnahmen. Am Montag lag der Wert deutschlandweit bei 5,28. Den höchsten Wert weist derzeit Thüringen mit 17,55 auf, den niedrigsten Hamburg mit 1,95. Der bisherige Höchststand wurde in der Weihnachtszeit 2020 mit rund 15,5 erreicht. 

Allerdings haben die Hospitalisierungswerte so ihre Tücken. Denn, und das ist wohl der Hauptkritikpunkt an der Hospitalisierungsrate, sie kommt mit Verzug. Es kann dauern, bis das zuständige Gesundheitsamt und daraufhin das RKI von der Einweisung erfahren und das bis zu zwei Wochen. So riet gar der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, nicht zu warten, bis diese Werte tatsächlich erreicht sind, sondern schon zuvor gegenzusteuern. Neu ist das nicht. Das RKI betrachtet den aktuellen Hospitalisierungswert 14 Tage lang unter Vorbehalt.

Der Grund dafür ist zum Haareraufen. Denn tatsächlich ist das Melden der Daten bisher nicht digital möglich, es gibt keine entsprechende Software. "Das passiert auf Papier, per Fax, und ist der Grund für die teils hohen Unterschiede. Die Realität wird hier nicht immer abgebildet", erklärte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, der "Dpa". 

Ein weiteres Problem des Werts nennt das Science Media Center Germany (SMC) in einem Twitter-Thread zum Thema: Als Summe über sieben Tage umfasse die Hospitalisierungsinzidenz keinen Zeitpunkt mit einigermaßen vollständigen Meldungen. Obendrauf kommt, dass es zwar statistische Verfahren gebe, "die versuchen, den Meldeverzug auszugleichen und realistischere Werte zu schätzen", wie das SMC auf Twitter schreibt. Sie würden aber bisher nicht herangezogen. 

Beispiel Bayern: Hier schrammte der Wert am vergangenen Freitag knapp an der neun vorbei, der höchsten Stufe der Hospitalisierungsinzidenz. In Wirklichkeit aber, davon geht das SMC aus, habe die Maßzahl zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich schon über zwölf gelegen. Im Vergleich zu anderen Bundesländern melde Bayern langsamer.

Hospitalisierungsrate ungeeignet?

Dass die Hospitalisierungsrate weder eine aktuelle Zahl sei, noch der Wert die tatsächliche Belastung der Krankenhäuser widerspiegele, kritisierte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz mit Blick auf die Einführung der Grenzwerte. Auch eine Expertengruppe vom RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung hatte bereits Ende Oktober in einem Positionspapier angemerkt, dass sich die Hospitalisierungsrate nicht als Entscheidungsgrundlage für ein angemessenes Pandemie-Management eigne. Ihren Berechnungen zufolge habe die Abweichung zwischen der ausgewiesenen und der tatsächlichen Hospitalisierungsinzidenz – mit Nachmeldungen – in den vergangenen Monaten bei rund 48 Prozent gelegen.

Als problematisch erachten Experten auch die Tatsache, dass das Geschehen in den einzelnen Bundesländern aufgrund der Unterschiede beim Melden kaum miteinander vergleichbar ist. Theoretisch ist es möglich, dass bei einer eigentlich gleichen Rate an Krankenhauseinweisungen die offizielle Inzidenz in einem Bundesland noch im grünen Bereich liegt, während sie in einem anderen bereits deutlich darüber liegt – nur weil ein Land langsamer meldet als ein anderes.

Verzerrte Lage in Sachsen

Wie es aussehen kann, wenn die Hospitalisierungsrate das Bild verzerrt, macht das Beispiel Sachsen deutlich. Das Bundesland meldet eine Hospitalisierungsrate von 2,39, die drittbeste der Republik. Dabei weist Sachsen deutschlandweit mit 960,7 die mit Abstand höchste Inzidenz auf (RKI, Stand 22.11.). Am Montag meldet das Divi-Intensivregister 465 Covid-19-Patienten, die dort auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Sie belegen 35 Prozent aller zur Verfügung stehenden Betten. Nirgendwo in Deutschland ist der Anteil höher.

Anders ausgedrückt: Die Lage in Sachsens Krankenhäusern ist katastrophal. Laut Angaben der Landesärztekammern muss sich der Freistaat auf die Triage vorbereiten. Aktuell sei die Behandlung zwar noch leistbar, allerdings geht der Präsident der Landesärztekammer, Erik Bodendieck, davon aus,  dass Sachsen in den nächsten Tagen so in die Belastung hineingehe, dass zwei Menschen um ein Bett "kämpfen müssen". Das teilte er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk mit. Die Überlegung sei dann, wer die besseren Aussichten auf einen Erfolg der Behandlung habe. 

Trotz aller Kritik gilt seit Freitag die Hospitalisierungsinzidenz als wichtigste Kennzahl. Der Drei-Stufen-Plan sieht vor, dass ab einem Wert von drei im gesamten Bundesland für Veranstaltungen die 2G-Regel greift, ab einem Wert von sechs die 2G-Plus-Regel und ab neun kommen weitere Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen hinzu. Reicht das? Die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich nicht zufrieden mit den getroffenen Absprachen. "Hier bin ich der Meinung, dass dieser Katalog nicht ausreicht", sagte sie. Am 9. Dezember soll ein nächstes Bund-Länder-Treffen stattfinden, im Zweifel nachjustiert werden. 

Und dass das notwendig werden könnte, darauf bereitete der Präsident der Intensivmediziner-Vereinigung Divi die Politik nun schon einmal vor. "Die Corona-Lage ist sehr besorgniserregend und momentan nicht unter Kontrolle", sagte Gernot Marx in einer Videoschalte am Montag. Man mache sich große Sorgen. Wenn die Infektionsdynamik in den nächsten Tagen und Wochen weiter anhalte und es weiter einen ungebremsten Anstieg an schwerkranken Covid-19-Patienten gebe, werde eine Priorisierung von Eingriffen und Umorganisation in weiten Teilen Deutschlands notwendig. Die Politik solle für den Fall, dass das vorige Woche beschlossene Paket nicht ausreichend greife, für die nächste Sitzung weitere Maßnahmen vorbereiten.

Quelle: RKI, Divi, dpa

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