Professor wagt Prognose: „Dass nach Corona wieder alles ist wie vorher, ist eine Illusion“

„Dass nach Corona wieder alles ist wie vorher, ist eine Illusion“, sagt Paul Nolte. Der Experte für Zeit- und Politikgeschichte ist sicher: Auch wenn bis zum Herbst eine kritische Masse geimpft wurde, werden wir noch sehr lange mit der Pandemie zu tun haben und zum Beispiel Masken und Impfausweise dabeihaben.

FOCUS Online: Herr Nolte, wagen wir einen Blick in die Zukunft: Wird die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft nachhaltig verändern?

Paul Nolte: Ja, auf jeden Fall. Es wird kein Zurück mehr zum Status quo ante geben, also dem Zustand, wie er vor der Pandemie gewesen ist. Dass nach Corona wieder alles ist wie vorher, ist eine Illusion. Je länger die Situation dauert, desto mehr spricht für die L-Theorie.

Was ist die L-Theorie?

Nolte: Vor einem Jahr hoffte man, dass die Krise nur ein kurzer Einschnitt sein wird, ein Absturz und dann ein schneller Aufstieg. Das wäre die V-Theorie. Dann kam die Frage auf, ob es eine zweite Welle geben werde, also die W-Theorie. Würde die Welle länger dauern, dann könnte man auch von einem U-Verlauf sprechen. Die L-Theorie ist nun, dass der Einschnitt nach dem Absturz noch länger ausgedehnt ist, es also ein längeres Tal gibt und wir erst nach und nach wieder aus der Krise herausfinden beziehungsweise auch nicht mehr dahin zurückfinden, wo wir vor der Pandemie waren.

Woran liegt das? Haben wir eine solche Skepsis entwickelt, dass große Teile der Gesellschaft keine Lust mehr darauf haben?

Nolte: Das liegt an drei Dingen: Erstens ist tatsächlich unsere Vorsicht gewachsen. Wenn wir die jetzige Situation mit der Situation im letzten Frühsommer vergleichen, dann ist schon jetzt ein viel größeres Zögern bemerkbar, in die alte Normalität der physischen Dichte oder der Zusammenballung von Menschen wieder einzutreten. Zum anderen sehen wir, dass es auch medizinische Problematiken gibt, wie Mutationen, die möglicherweise durch die jetzigen Impfstoffe nicht mehr abgedeckt sind. Und drittens: Wir werden die jetzige Sensibilität in Gesundheitsdingen mit großer Wahrscheinlichkeit mitnehmen und auf andere biologisch-medizinische Risiken jenseits des Coronavirus projizieren. Die Angst vor einer neuen Pandemie, vor dem nächsten Virus, wird eine erhebliche Rolle spielen. Das prägt uns als Gesellschaft. 

„Wir werden Masken und ziemlich sicher auch einen Impfausweis immer dabeihaben.“

Worin wird sich das äußern?

Nolte: Es ist gut vorstellbar, dass wir in den nächsten Jahren die Pflicht zum Maskentragen in öffentlichen Verkehrsmitteln in der normalen Grippesaison beibehalten werden. Wir werden Masken und ziemlich sicher auch einen Impfausweis immer dabeihaben. Es gibt sicher wesentlich schlimmere Beeinträchtigungen der persönlichen Lebensführung, aber man muss sich klar machen, was das bedeutet, wenn man zum Beispiel regelmäßig ein Gesundheitsdokument vorlegen müsste, bevor man zu einer Veranstaltung geht: Kontrolle, Verlust von Anonymität und schlicht die Tatsache, dass alles, was wir tun, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird. Wir müssen aufpassen, dass über die Jahre nicht eine Gewöhnung daran eintritt, die es dann tatsächlich zur Normalität werden lässt.

Genauso ist es mit den persönlichen Umgangsformen. Auch hier wird es vermutlich zu länger andauernden Veränderungen kommen, die sich etwa in einer größeren Vorsicht in der persönlichen Nähe und körperlichen Begegnung mit Menschen niederschlagen.

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In vielen ostasiatischen Gesellschaften war es schon vor Corona üblich, in bestimmten sozialen Situationen eine Maske zu tragen. Wir haben das zum Teil belächelt, wenn uns chinesische oder japanische Touristen in den Schweizer Alpen mit Maske begegnet sind. Gewiss, das kann ein Zeichen des Respekts vor dem anderen sein. Zugleich signalisiert es jedoch körperliche und soziale Abgrenzung und ist ein Symbol der gesundheitlichen Obsession, den anderen nicht anstecken zu dürfen. Aber diese Abgrenzung hat ihre Risiken und Nebenwirkungen, denn sie beeinträchtigt das lebensnotwendige Bedürfnis nach körperlicher Nähe, Umarmungen, Berührungen und so weiter.

Sie sagten schon vor etwa einem Jahr, dass es ein Pandemie-Trauma geben könne. Vertreten Sie diese These auch heute noch?

Nolte: Ja und nein. Die Bilder von Bergamo aus dem Frühling 2020 bleiben. Auch wird es möglicherweise Erinnerungen an die Toten geben: Erinnerungstafeln oder Denkmäler. Vielleicht wird auch ein Corona-Museum entstehen – die Erinnerung wird also verschiedene Formen annehmen. Ob ein Trauma zurückbleibt, ist schwierig zu beantworten. Übergroße Angst vor gesundheitlichen Gefahren zum Beispiel, wie oben erwähnt, wären ein solches Corona-Trauma, mit dem wir es möglicherweise zu tun haben könnten. Allerdings ist ein Trauma auch etwas hochindividuelles, das manche Menschen trifft und andere nicht. Die nationalsozialistische Herrschaft und ihre Nachwirkungen sind zum Beispiel ein Trauma für die Bundesrepublik gewesen, ohne dass wir damit meinen, dass jeder einzelne davon in seiner individuellen Existenz betroffen war.

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Leiten Sie als Historiker die Annahme eines möglichen Pandemie-Traumas also auch aus früheren Krisen ab?

Nolte: Abgesehen vom NS-Regime hatten schwere Krisen in der Vergangenheit häufig etwas Naturgegebenes. Auch nach Naturkatastrophen, wie etwa Pandemien, kann ein Trauma entstehen, aber doch erst dann, wenn man sich die Kosten des Ereignisses bewusst macht. Dieses Bewusstwerden der Kosten hat bei früheren Pandemien viel weniger stattgefunden als heute. Die Spanische Grippe zum Beispiel stand teilweise im Schatten des zu Ende gehenden Ersten Weltkriegs. Heute beschäftigen wir uns hingegen sehr intensiv mit der Pandemie und das ist das erste Indiz dafür, dass davon etwas bleiben wird. Dass wir uns so extrem intensiv mit dem Thema beschäftigen und beschäftigt haben – diese Corona-Fixierung ist im Grunde schon jetzt ein Trauma, das wir davontragen.

Lesen Sie im ersten Teil des Interviews, wie das gewaltige Sozialexperiment, in dem wir uns momentan befinden, bislang ausgegangen ist, warum "Corona total" uns nicht guttut und weshalb wir uns als Demokraten endlich wieder streiten müssen. Paul Nolte im Interview – Gewaltiges Corona-Sozialexperiment: Historiker warnt vor "stillem Verschrumpeln von Freiheit"

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