Das Cornelia-de-Lange-Syndrom ist sehr selten, nur etwa einer von etwa 45.000 Menschen ist betroffen. Die Krankheit geht oft mit einer geistigen Behinderung einher. Auch äußerlich macht sich das Syndrom bemerkbar: Die Betroffenen haben meist dichte, gebogene Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammengewachsen sind, eine große, flache Nase mit nach vorn gerichteten Nasenlöchern, eine schmale Oberlippe, nach unten gezogene Mundwinkel und ein eher kleines Kinn.
Ärzte diagnostizieren die Krankheit bislang vor allem anhand des äußeren Erscheinungsbilds der Patienten. Weil die Krankheit so selten ist, fällt das nicht immer leicht. Nun haben Forscher eine Software entwickelt, die anhand von Porträtfotos vor allem von Kindern zuverlässig seltene Erbkrankheiten erkennen kann.
Software erkennt 200 Erbkrankheiten
Erarbeitet haben das Programm namens DeepGestalt Wissenschaftler aus den USA, Israel und Deutschland, wie sie im Fachblatt „Nature Medicine“ berichten. Es soll mehr als 200 meist überaus seltene Syndrome erkennen können, die oft schon im Kindesalter Probleme bereiten. Bei einem Anfangsverdacht grenze die Software die Zahl der möglichen genetischen Ursachen ein und beschleunige so die Diagnose, sagt Peter Krawitz vom Uniklinikum Bonn.
Nimmt man alle seltenen Erbkrankheiten zusammen, treten sie häufig auf: Etwa zwei bis acht Prozent der Bevölkerung hätten ein genetisch bedingtes Syndrom, sagt Krawitz. Ein Drittel bis die Hälfte dieser Erkrankungen gehe mit mentalen Beeinträchtigungen einher, die sich oft schon im Kleinkindalter zeigen.
„Wegen der großen Zahl möglicher Syndrome und ihrer Seltenheit ist die richtige Diagnosestellung ein langwieriger und teurer Prozess“, schreibt das Team um Yaron Gurovich vom Bostoner Unternehmen FDNA. Bisher könnten nur einige wenige Experten ungewöhnliche Erscheinungsbilder oder äußerst seltene Symptome erkennen.
Für die Betroffenen und ihre Familien bedeutet das häufig eine jahre- bis jahrzehntelange Arzt-Odyssee, die ständige Suche nach der Ursache für die Probleme, neue Therapieversuche, zerschlagene Hoffnungen. Intelligente Programme könnten die Situation deutlich verbessern, so die Idee der Forscher.
Die Software DeepGestalt untersucht Frontalaufnahmen von Gesichtern auf charakteristische Auffälligkeiten und analysiert dann etwa die Form der Augen, des Mundes, des Kinns oder den Abstand zwischen den Augenbrauen. Insgesamt erkennt das Gesicht 130 Punkte im Gesicht und vergleicht diese mit 216 Syndromen.
Dabei funktioniert es ähnlich wie ein neuronales Netzwerk, das bestimmte Muster im Gesicht erkennt. „In der Datenbank wird das Patientenfoto mit vielen Bildern abgeglichen und eine Gesamtähnlichkeit ermittelt“, sagt Bioinformatiker Krawitz.
Training mit mehr als 17.000 Bildern
Am aufwendigsten war laut Krawitz das Training der Software an einem Datensatz von mehr als 17.000 Bildern. So übte das Programm das Erkennen des Cornelia-de-Lange-Syndroms anhand von 614 Bildern von Betroffenen und knapp 1100 Bildern anderer Menschen. In einem nachfolgenden Test, ob jemand dieses Syndrom hat oder nicht, erreichte das Programm eine Zuverlässigkeit von 97 Prozent.
Beim Angelman-Syndrom, für dessen Training Bilder von knapp 770 Betroffenen und knapp 2700 anderen Menschen verwendet wurden, lag die Zuverlässigkeit bei 92 Prozent. Die Betroffenen haben häufig einen kleinen Kopf, der an der Hinterseite abgeflacht ist, sowie einen eher großen Mund mit hervorstehendem Oberkiefer.
Bei diesen beiden Tests ging es zunächst nur darum, ob jemand dieses eine Syndrom hat oder nicht. In zwei weiteren Tests prüften die Forscher dann, wie gut DeepGestalt einem Gesichtsfoto einen von 216 unterschiedlichen Gendefekten zuordnen kann.
Programm liefert nur Verdachtsdiagnose
Nach der Analyse gab das System eine Top-Ten-Liste möglicher Diagnosen aus: Die Wahrscheinlichkeit, dass der tatsächliche Gendefekt unter diesen Top Ten zu finden war, lag bei etwa 90 Prozent. In etwa 65 Prozent der Fälle traf sogar die als am wahrscheinlichsten geltende Diagnose zu.
Eingesetzt werden könne die Software etwa von Kinderärzten, zu denen Eltern mit auffälligen Kindern kämen, sagt Krawitz. Allerdings liefere das Programm nur Verdachtsdiagnosen, die dann von Laboren überprüft werden müssten. Außerdem können eben nur jene Gendefekte erfasst werden, die auch deutliche morphologische Abweichungen der Gesichtsform auslösen – längst nicht alle Erbkrankheiten bringen das mit sich.
„Der Wert liegt darin, dass etwa Kinderärzte damit im Idealfall in Absprache mit einem Humangenetiker eine gezielte Diagnostik veranlassen können“, sagt der Bioinformatiker. So seien selbst Experten mit der Diagnose oft überfordert, weil die Zahl der neu entdeckten Syndrome kontinuierlich steige.
Das Erkennen von Erbkrankheiten ist nur eine von vielen Anwendungen von Künstlicher Intelligenz in der Medizin. Ähnliche Softwares werden laut Krawitz zur Auswertung von anderen Bildern entwickelt, etwa von MRT-Aufnahmen oder von Fotos der Netzhaut.
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