Hirnschäden durch zu viel Selen: Wie sich eine Frau versehentlich selbst vergiftete

Die Frau kam mit schweren Sehstörungen in die Uniklinik der britischen Stadt Southampton. Sie konnte ihre Umwelt nur unscharf sehen und erkannte keine Zahlen oder Linien mehr auf Farbtafeln. Ihre Augen schienen jedoch in Ordnung: Ein Test der Netzhautzellen lieferte normale Ergebnisse.

Erst ein Kernspinbild des Kopfes enthüllte, dass die Probleme der Frau tiefer lagen, im Inneren des Großhirns. Helle Stellen unter der Hirnrinde wiesen auf eine Leukenzephalopathie hin, eine Erkrankung der weißen Hirnsubstanz. Dort verlaufen Millionen von Nervenfortsätzen, mit denen die Hirnzellen sich verschalten. Degeneriert die weiße Substanz, leidet auch die Signalweiterleitung im Gehirn. Dazu passte der Eindruck, dass die Frau schon mit Anfang 50 leicht dement wirkte.

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Die Ärzte um den Immunologen William Rae rätselten über die Ursache des geistigen Verfalls und unterzogen die Patientin diversen Tests. Leukenzephalopathien können viele Gründe haben: Infektionen, Erbleiden, Multiple Sklerose, Heroin, Kokain oder eine Krebstherapie können die weiße Substanz in Mitleidenschaft ziehen. Nun nehme die Frau weder Drogen noch Arzneimittel, schrieben William Rae und Kollegen zu dem Fall im Ärztejournal JAMA Neurology, wohl aber Nahrungsergänzungen in hoher Dosierung: „Sie gab an, auf eigene Faust frei verkäufliche Selen- Präparate einzunehmen“, so die Ärzte – um ihr Immunsystem zu stärken. Ein Jahr zuvor habe sie mit einer 200-Mikrogramm-Tablette pro Tag begonnen, schon die lag deutlich über der empfohlenen Tagesdosis. Vor einem halben Jahr hatte sie dann auf sechs bis acht Pillen täglich erhöht. „Als sie zu uns kam, war ihr Selen-Wert im Blutserum extrem hoch: 5370 Mikrogramm pro Liter“, schrieben Rae und Kollegen. Die Frau setzte die Tabletten ab, doch bis ihre Symptome verschwanden, vergingen fast zwei Jahre.

Selen ist für den Stoffwechsel unentbehrlich – und zugleich tückisch. In der Aminosäure Selenocystein dient es als Protein-Baustein, es reguliert die Hormone der Schilddrüse und die Spermienbildung. Sogenannte Selenoproteine wehren als Teil des menschlichen Entgiftungssystems zellschädigende Sauerstoffverbindungen ab. Daher rührt wohl der gute Ruf des Selens: Weil das Spurenelement „freie Radikale“ neutralisiert, die mit Altern, Herz- und Krebsleiden assoziiert werden, wird es als Anti-Aging-Mittel und zur Krankheitsprävention beworben. Effekte, die aber durch klinische Studien kaum belegt, zum Teil sogar widerlegt sind. Eigentlich lässt sich Selen ausreichend übers Essen aufnehmen: Fleisch, Fisch, Eier und Innereien liefern reichlich. Vegetarier und Veganer können zu Paranüssen, Brokkoli, Weißkohl, Pilzen oder Hülsenfrüchten greifen.

Bei uns erreichen Erwachsene im Schnitt nicht ganz den Tages- Referenzwert von 60 bis 70 Mikrogramm am Tag, echten Selenmangel gibt es in Europa aber nicht – und damit keine Empfehlung, Selen zu schlucken. Für Patienten mit Darm- oder Nierenleiden können Präparate sinnvoll sein, und zwar unter ärztlicher Aufsicht. Denn Selen wird leicht überdosiert. Arzneimittel mit mehr als 70 Mikrogramm pro Tag gibt es daher nur auf Rezept. Nahrungsergänzungsmittel enthalten aber durchaus 200 Mikrogramm (obwohl das Bundesinstitut für Risikobewertung maximal 45 empfiehlt). Also Finger weg von dicken Brummern: Schon ab 300 Mikrogramm, gerade mal anderthalb Pillchen täglich, drohen akute Symptome einer Überdosierung.


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