Sie möchte eine Wassergeburt. Die rund 140 Kilogramm schwere Frau liegt in der Gebärwanne, als die Geburt stockt. Der Assistenzarzt soll sie zum Entbindungsbett bringen, damit das Kind mit der Geburtszange geholt werden kann. Er sagt zu der Frau: „Es wird gefährlich.“ Aber sie bleibt in der Wanne. Das Kind bekommt nicht genügend Sauerstoff, trägt bleibende Schäden davon. Die Eltern fordern Schadensersatz – mit Erfolg. Der Arzt habe die Frau nicht mit dem notwendigen Nachdruck auf die Risiken aufmerksam gemacht, urteilen die Richter.
Oder das Juristenpaar, das unbedingt vom Chefarzt betreut werden will. Als die Geburt beginnt, hat er keine Zeit und schickt seine Oberärztin. Sie ist nervös, will alles richtig machen. Beim Routinecheck sind die Herztöne des Kindes leicht auffällig. Nach einer Blutuntersuchung entscheidet sich die Ärztin für einen Notkaiserschnitt. Das Kind kommt gesund auf die Welt, die Mutter klagt trotzdem. Sie fordert Schadensersatz wegen Körperverletzung, und weil ihr das Geburtserlebnis entgangen ist. Der Fall endet mit einem Vergleich.
Es gibt nicht immer einen Schuldigen
Fehler passieren, auch in der Geburtshilfe. Wie viele es sind, kann niemand genau sagen. Es seien aber nicht mehr als in anderen medizinischen Fachbereichen, und sie hätten auch nicht zugenommen, sagen Hebammen, Ärzte, der Medizinische Dienst der Krankenkassen und die Versicherungswirtschaft. „Zugenommen hat die Bereitschaft, Schadensersatz zu fordern“, sagt der Gynäkologe Dietrich Berg, der seit mehr als 20 Jahren Gutachten zum Arzthaftungsrecht erstellt.
Während die Zahlungen für betroffene Familien zumindest finanzielle Entlastung in ihrer schwierigen Lebenssituation bedeuten, bringen die steigenden Schadensersatzsummen Ärzte und Hebammen in die Bredouille. „Die Summen sind seit 2003 jedes Jahr im Schnitt um sieben Prozent gestiegen“, sagt Nils Hellberg, Leiter Haftpflicht-, Kredit-, Transport- und Luftfahrtversicherung beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft. Denn dank des medizinischen Fortschritts haben auch schwergeschädigte Kinder eine höhere Lebenserwartung. Das ist ein großer Erfolg. Pflege und Therapie kosten aber immens viel Geld. „Für einen schwersten Geburtsschaden gibt es heute im Mittel 2,6 Millionen Euro Schadensersatz“, so Hellberg.
Oft sind Klagen Ausdruck von Verzweiflung. „Eltern mit einem schwer kranken Kind suchen nach Gründen und Schuldigen“, beobachtet Frank Louwen, Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Doch nicht immer kann man diese benennen.
Nur rund ein Drittel aller Schadensersatzforderungen hat vor Gericht Erfolg, sagt der langjährige Gutachter Alexander Teichmann, Chefarzt der Frauenklinik am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau. Ob Eltern mit ihrer Klage durchkommen, hänge von zwei Faktoren ab. Erstens: Wurde alles gemacht, was dem medizinischen Standard entspricht? Oder gab es Fehler? Zweitens: Falls es Fehler gab, müssen diese für die Schädigung verantwortlich sein. Das lässt sich aber oft nicht eindeutig sagen.
Unnötige Tests aus Angst vor Klagen
Beispiele für abgewiesene Klagen gibt es viele: die Schadensersatzforderung einer Klägerin etwa, der nach der Geburt die Gebärmutter entfernt wurde. Die Maßnahme sei notwendig gewesen, um ihr Leben zu retten, so die Begründung für die Ablehnung. Auch Sauerstoffmangel als Auslöser für einen Geburtsschaden ist nicht immer Schuld der Ärzte, Hebammen oder Krankenschwestern. Vielleicht haben sie Fehler gemacht und sich zu spät zu einem Kaiserschnitt entschieden. Vielleicht lief aber auch alles korrekt – und trotzdem ging die Geburt schief. Ein weiterer Grund kann sein, dass sich die Nabelschnur schon im Mutterleib verknotet hat. „Das Kind trägt einen Schaden davon, aber es gibt keinen Schuldigen“, erklärt Teichmann.
Viele Prozesse drehen sich heute vor allem um die Frage, ob Ärzte bestimmte Probleme schon in der Schwangerschaft hätten erkennen können. „Es geht darum, ob man aufgrund eines Befunds mehr Untersuchungen hätte machen müssen“, so Teichmann. Welche Erkenntnisse hätte man dadurch gewonnen? Hätten sie zu einer anderen Behandlung geführt? Falls ja, wird die unterlassene Untersuchung als schwerer Regelverstoß bewertet. Arzt oder Hebamme müssen dann nachweisen, dass die ausgebliebene Handlung den Schaden nicht hätte abwenden können.
Das alles hat Folgen. „Wenn ich Angst habe, dass mir später ein fehlender Befund angelastet wird, werde ich in der Vorsorge immer alles untersuchen“, sagt Teichmann. Das führt auch zu unnötigen Tests, Ultraschall- und CTG-Untersuchungen.
Weil die Haftpflichtprämien stetig steigen, geben immer mehr freiberufliche Hebammen die Geburtshilfe auf. Und viele Geburtshelfer agierten nur noch defensiv, beklagt Martina Klenk, Präsidentin des Deutschen Hebammenverbandes. „Zieht sich eine Geburt lange hin, wird aus Furcht vor Komplikationen eher ein Kaiserschnitt gemacht.“ Kinder in Beckenendlage oder Zwillinge kommen inzwischen sehr häufig per Kaiserschnitt auf die Welt, obwohl das in vielen Fällen medizinisch nicht notwendig wäre. „Dadurch geht Können verloren“, meint Klenk. Kaiserschnitt
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Es gibt nur wenige medizinische Indikationen für einen Kaiserschnitt. Etwa wenn das Kind quer zur Längsachse der Mutter liegt und eine natürliche Geburt unmöglich macht. Oder wenn der Mutterkuchen vor dem Muttermund liegt. Solche Konstellationen sind selten: Nur rund 1,4 Prozent aller Kaiserschnitte gehen auf eine Querlage zurück, ein Prozent auf die Fehllage der Plazenta, haben Gesundheitswissenschaftler ermittelt.Viel häufiger ist der Kaiserschnitt eine Option: Bei einer Beckenendlage, hohem Geburtsgewicht, Mehrlingsgeburten oder einem vorangegangenen Kaiserschnitt empfehlen viele Ärzte die Operation – zwingend notwendig ist sie nicht, auch wenn manche Kliniken das offenbar suggerieren. Anders lässt es sich kaum erklären, dass die Zahl der geplanten Kaiserschnitte deutschlandweit so stark schwankt: In Dresden kamen 2010 lediglich 5,7 Prozent aller Kinder durch einen geplanten Kaiserschnitt auf die Welt, im Kreis Tischenreuth (Bayern) waren es 32,51 Prozent.
Zur Autorin
- privatCarina Frey, studierte Soziologin,
arbeitet nach Stationen bei „Frankfurter Rundschau“ und dpa als freie Journalistin. Ihre Schwerpunkte sind Verbraucher- und Wissenschaftsthemen.
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