Winterdepression: HelloBetter-Gründerin über die Grenzen und Chancen von Online-Psychotherapie

Durch Ihre Plattform kommen Sie regelmäßig mit Menschen in Kontakt, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, Dr. Hanne Horvath. Haben Sie in den letzten Monaten eine Veränderung bei den Nutzenden festgestellt?

Dr. Hanne Horvath: Unsere Patientenzahlen sind in den letzten Jahren stark gestiegen. Das liegt sicherlich einerseits daran, dass wir bekannter geworden sind. Aber natürlich auch daran, dass der Bedarf enorm gestiegen ist. Der Vorteil unseres digitalen Programms ist natürlich, dass Betroffene direkt loslegen und so die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken können. Unsere Medizinprodukte sind wie ein interaktiver Online-Kurs, in dem Teilnehmende unter anderem auch viele Fragen und Übungen schriftlich beantworten. Da sehen wir tatsächlich, dass Themen wie der Krieg eine Rolle für die Menschen spielen. Aber auch die dunkle Jahreszeit und Einsamkeit werden oft thematisiert.

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Bleiben wir einmal bei der dunklen Jahreszeit. Woran liegt es denn, dass wir im Herbst und Winter eher zu mentalen Problemen neigen?

Die Dunkelheit spielt dabei eine Rolle. Wenn es draußen dunkel ist, schüttet unser Gehirn andere Hormone aus. Wenn sich unser Körper auf Müdigkeit vorbereitet, dann produziert er zum Beispiel weniger Glückshormone, die uns dann fehlen. Licht ist also auf jeden Fall gut für die Stimmung. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die Ursache für den sogenannten Winterblues durchaus komplexer ist. Viele Menschen sind zum Beispiel in der kalten Jahreshälfte weniger aktiv als im Frühjahr und Sommer. Und Aktivitäten wie Sport oder Freunde treffen sind ein großer Stabilisator für die psychische Gesundheit. Nicht umsonst sind positive Aktivitäten bei vielen Therapieverfahren sehr zentral, auch innerhalb unserer Medizinprodukte.

Wege aus der Winterdepression

Haben Sie denn einen Tipp für Menschen, die jetzt merken: Ich bin weniger aktiv, würde das gerne ändern, weiß aber nicht so richtig, wie ich das angehen soll?

Ich muss ja nicht die gleichen Dinge machen, die ich im Sommer gemacht habe. Es geht am Ende wirklich nur darum, aktiv zu werden. Allein das Wissen darüber, dass Aktivität mit mentaler Gesundheit zusammenhängt, führt oft zu einem bewussteren Umgang damit. Auch, wenn man sich nicht unbedingt danach fühlt, macht man es dann trotzdem eher mal. Und um dieses "trotzdem" geht es. Gerade bei psychischen Beschwerden muss ich ein Verhalten eine Weile lang durchziehen, bis sich das Gefühl dazu einstellt. Spazieren gehen oder telefonieren kann ich zum Beispiel zu jeder Jahreszeit.

Gibt es denn abgesehen von Aktivitäten noch andere Möglichkeiten, einer Winterdepression vorzubeugen?

Ich würde wirklich jedem Menschen empfehlen, ein Präventionsprogramm zu belegen. Das gibt es von uns und vielen anderen Anbietern digital und das wird auch von den meisten Krankenkassen mittlerweile übernommen. In solchen Kursen lerne ich viel über mentale Gesundheit, Stressbewältigung und Emotionsregulierung. Diese Techniken können vor einem großen Tief bewahren. Das ist vielleicht erstmal nichts, was sich im ersten Moment super spaßig anhört, aber es ist total wichtig.

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Es gibt leider viele Menschen, für die Prävention zu spät ist. Sie warten gerade mit einer psychischen Erkrankung auf einen Therapieplatz – bis zu sechs Monate lang. Wie kann man die Wartezeit sinnvoll nutzen?

Die meisten Betroffenen merken erst nach mehreren Jahren, dass sie überhaupt Hilfe brauchen. Sie warten also sehr lange, bis sie sich einem Arzt anvertrauen. Digitale Gesundheitsanwendungen sind deshalb für viele tatsächlich attraktiver, weil sie sofort verfügbar sind und dadurch nicht nur die Wartezeit überbrücken können, sondern teilweise sogar ganze Therapien ersetzen. Und: Die meisten unserer Patienten machen tatsächlich nach dem Abschluss eines unserer Programme keine andere Psychotherapie mehr. 

So funktioniert Online-Psychotherapie

Bei Ihren Onlinekursen haben die Teilnehmer einen Psychotherapeuten, der sie über das Internet betreut. Die Beziehung zwischen Therapeut und Patient wird in der Psychotherapie aber nach wie vor als essenziell angesehen. Fehlt dann nicht was bei Ihnen?

Ich glaube, es kommt auf die Bedürfnisse der Betroffenen an. Es gibt Menschen, die das persönliche Gespräch von Angesicht zu Angesicht brauchen. Das ist auch vollkommen okay. Im Rahmen unserer Kurse gibt es so einen Kontakt auch: Nutzende erhalten schriftliches Feedback von Therapeuten. Wir forschen und entwickeln unsere Lösungen seit über zehn Jahren weiter und sehen deutlich, dass unser Konzept wirkt – über 30 wissenschaftliche Studien belegen das. Die sogenannte therapeutische Allianz kann aber auch über unsere Plattform entstehen, wie wir in Untersuchungen sehen konnten. Das heißt, die Bindung ist da – aber sie ist sicherlich anders, als wenn Therapeut und Patient in einem Zimmer sitzen. Was aber vor allem wirkt, sind die psychotherapeutischen Methoden. Man darf sich unsere Kurse nicht als Übersetzung der klassischen Psychotherapie vorstellen.

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Wie genau funktioniert Online-Psychotherapie denn im Vergleich zur klassischen Therapie?

Bei uns loggen sich die Teilnehmenden ein und arbeiten dann aktiv über mehrere Wochen in ihrem Programm. Es gibt verschiedene Module, die sie dann wöchentlich durcharbeiten. Sie schauen sich zum Beispiel Videos an, schreiben etwas auf oder machen Übungen. Das sind alles psychotherapeutische Methoden, die es in der klassischen Therapie auch geben würde. Nur eben in Eigenregie. Zusätzlich bekommen die Teilnehmenden noch Infos zu Themen rund um mentale Gesundheit mit an die Hand. Sie wissen also immer, warum sie etwas machen und was es ihnen bringt. 

Jetzt läuft die Online-Therapie ja standardisiert ab. Jeder Teilnehmer durchläuft das gleiche Programm. Wie individuell kann so eine Psychotherapie sein?

Das ist ein Kritikpunkt, den ich häufig höre. Wenn wir unsere Patienten fragen, dann bekommen wir meistens das Feedback, dass sie das Programm als sehr individuell erleben. Durch die eigenen Themen, Gedanken und Gefühle, die man in das Programm einbringt, wird es für jeden zu einer eigenen Reise. Wir leiten die Menschen im Endeffekt dabei an, ihr eigenes Leben zu reflektieren.

Der Weg zur Online-Psychotherapie

Wer sich für eine Online-Psychotherapie interessiert, der sollte zunächst einen Termin beim Hausarzt machen. Dort schildern Betroffene dann ihre psychischen Symptome. Wer nicht sofort einen Termin bekommt, der kann alternativ über HelloBetter einen digitalen Gesprächstermin bei einem Arzt vereinbaren. Der Mediziner muss dann eine Diagnose stellen und kann daraufhin den passenden Online-Kurs auf Rezept verschreiben. Das Rezept muss dann zur Krankenkasse weitergeleitet werden. Die wiederum meldet sich dann nach einigen Tagen mit dem Zugangscode für das Portal. Und dann kann es schon losgehen. Übrigens: Kurse, die die Krankenkassen noch nicht übernehmen können wir 299 Euro gebucht werden. 

Was kann Online-Psychotherapie leisten, was normale Therapie nicht kann?

Die große Chance von digitaler Psychotherapie ist, dass wir Menschen viel früher im Erkrankungsverlauf erreichen können. Nämlich an dem Punkt, an dem sie es noch aus eigener Kraft wieder auf die Beine schaffen wollen. Viele möchten keine Psychotherapie machen, weil sie ihre Probleme lieber selbstständig lösen wollen, anstatt sich von Ärzten oder Psychotherapeuten helfen zu lassen. Mit unserem Angebot können wir also verhindern, dass sich viele Erkrankungen chronifizieren.

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Die digitale Zukunft der Psychotherapie

Künstliche Intelligenz und die Digitalisierung bieten ja viele Möglichkeiten. Wie verändern diese Ihrer Meinung nach die Psychotherapie generell in Zukunft?

Das Stichwort ist hier "auf lange Sicht". Wir sehen schon bei uns, dass es selbst nach zehn Jahren und etlichen Studien noch harte Arbeit ist, ein solches Medizinprodukt in die Versorgung zu bekommen. Und wir haben noch keine Künstliche Intelligenz inkludiert. In zehn oder zwanzig Jahren werden solche innovativen Technologien aber eine große Rolle spielen. Wir sehen jetzt schon, dass man durch die Stimmerkennung schneller Depressionen diagnostizieren kann. Bis das aber auch in den Praxen ankommt, wird es noch dauern. Die Zukunft der Psychotherapie ist auch digital. Nicht nur, aber auch.

Sie sagen, es dauert – woran hakt es?

Veränderungen brauchen immer ein bisschen Zeit, das sehen wir ja auch regelmäßig bei der Entwicklung und Adoption von Impfstoffen. Ich bin trotzdem davon überzeugt, dass eigentlich jeder Politiker und jede Politikerin die Online-Therapie puschen sollte, weil sie viel Leid verhindern könnte und Lücken schließt. Denn psychische Erkrankungen bleiben noch immer zum großen Teil unbehandelt. 

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