Liana pflegt Alte in 24-Stunden-Schicht und offenbart unser Osteuropa-Dilemma

Sie wohnen bei Senioren und kümmern sich rund um die Uhr um sie. Etwa 700.000 24-Stunden-Kräfte aus Osteuropa arbeiten in Deutschland, viele von ihnen zu einem Hungerlohn. Die Rumänin Liana erzählt von schweren Momenten, sagt aber auch: „Ich mache meinen Job gern.“

2015 veränderte sich Lianas Leben für immer. Sie hatte große finanzielle Probleme und wusste: Sie muss etwas unternehmen. Also fasste die heute 53-jährige Rumänin einen Entschluss. Liana, die eigentlich anders heißt und ausgebildete Krankenschwester ist, setzte sich in ihrer Heimatstadt in einen Bus nach Freiburg. Sie steuerte ein Hotel an, in dem eine ihrer Freundinnen arbeitete, in der Hoffnung, dort einen Job zu finden.

"Sie können hier nicht arbeiten", sagte ihr der Direktor nach zwei Tagen. Liana war verzweifelt. Dann aber erinnerte sie sich an einen Flyer, den ihr eine Frau an der Bushaltestelle zugesteckt hatte. Sie rief die Nummer an, die dort aufgedruckt war, und fuhr mit 20 Euro in der Tasche zu einem Vorstellungsgespräch ins knapp 450 Kilometer entfernte Langenbach. Heute ist die Flyer-Frau Lianas Chefin.

Für den Rund-um-die-Uhr-Service bekommt Liana 1500 Euro

Liana arbeitet seit 2015 als 24-Stunden-Betreuungskraft in Deutschland, wie rund 700.000 andere Osteuropäer. Das heißt: Sie wohnt bei den Senioren, die sie pflegt. Wenn sie ihren Job beschreibt, klingt er simpel. "Es geht darum, für alte Menschen da zu sein, ihnen schöne Momente zu bereiten", sagt Liana im Gespräch mit FOCUS Online. Doch schon bei der Aufzählung ihrer Aufgaben wird klar: So einfach ist es dann doch nicht.

Lianas Tag beginnt damit, das Frühstück vorzubereiten. Wenn ihre Klienten aufstehen, putzt sie ihnen die Zähne, wäscht ihr Gesicht, zieht sie an. "Jeder Tag ist ein bisschen anders, ich gehe auch einkaufen und frage die Senioren, was sie gerne essen würden, damit ich es später kochen kann", sagt die 53-Jährige.

Sie erzählt davon, wie sie sich mit ihren Klienten beschäftigt, vom Rätselraten, Singen, Monika-Gruber-Schauen. Liana kümmert sich auch um die Medikamente der Senioren, die sie betreut. "Ich bin ja schließlich Krankenschwester, da ist das kein Problem." Für ihre Arbeit bekommt die Rumänin rund 1500 Euro netto im Monat, manchmal ein bisschen mehr, wie sie sagt.

Der Mindestlohn beträgt in Deutschland 1702,13 Euro brutto (40-Stunden-Woche, Stand: Januar 2022), mit Abzügen sind das durchnittlich zwischen 1100 und 1300 Euro netto. Lianas Einkommen liegt also etwas über der Grenze zum Mindestlohn.

Trotzdem findet die Rumänin nicht, dass sie schlecht bezahlt wird. Das hat auch damit zu tun, dass sie in ihrer Heimat deutlich weniger verdient hat. Rumänien ist ein armes Land, 2020 lag der Anteil der von Armut bedrohten Menschen laut einer Erhebung von Eurostat bei 30,4 Prozent. Mit ihrem Gehalt unterstützt Liana ihre Familie. "Ich habe jetzt ein anderes, besseres Leben als früher", sagt sie. 2015 hätte sie fast ihr Haus verloren, solche Sorgen hat sie heute nicht mehr.

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"Ich habe nie an mich gedacht"

Doch nicht jede 24-Stunden-Betreuungskraft ist mit ihrem Job – und vor allem mit der Bezahlung – so zufrieden sind wie Liana. Dorina D., eine Frau aus Bulgarien, kümmerte sich 2015 um eine 90-jährige Frau aus Berlin. Weil sie rund um die Uhr arbeiten oder in Bereitschaft sein musste, verlangte sie den deutschen Mindestlohn. Der Fall wurde am Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt verhandelt. Imago Liana verdient 1500 Euro netto im Monat.

Im Sommer 2021 trafen die Richter eine Entscheidung zu Dorina D.s Gunsten. Demnach haben nach Deutschland entsandte ausländische Betreuungskräfte einen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Verdi-Gesundheits- und Pflegeexperte Dietmar Erdmeier sagte im Gespräch mit dem Portal "Neues Deutschland", die Juristen hätten "den Wert der Arbeit sichtbar gemacht, den die Frauen aus Osteuropa leisten, die sich um alte Menschen zu Hause kümmern".

Wie hoch dieser ist, das wird im Gespräch mit Liana schnell klar. In sieben Jahren als 24-Stunden-Kraft hat sie viele Menschen sterben sehen. "Das ist immer schwer, aber ich sage mir, ich habe alles getan, ich habe meine Sache gut gemacht." Manchmal, so erzählt es die 53-Jährige, sei sie "psychisch fix und fertig" gewesen. "Immerhin habe ich mit diesen Menschen zusammengelebt. Ich habe nie an mich gedacht."

24-Stunden-Betreuung würde 9000 bis 12.000 Euro kosten

24 Stunden da sein, 24 Stunden Verantwortung: Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts könnte den Weg für eine fairere Bezahlung osteuropäischer Betreuungskräfte ebnen. Doch in der Praxis hakt es, das haben die vergangenen Monate gezeigt.

Schon kurz nach der Urteilsverkündung waren Befürchtungen aufgekommen, 24-Stunden-Arbeitskräfte würden auf Schwarzarbeit oder Scheinselbstständigkeit ausweichen. Denn mit dem Mindestlohn drängt sich bei vielen Pflegebedürftigen auch eine unangenehme Frage auf: Kann ich mir den 24-Stunden-Service so überhaupt noch leisten? 80 Prozent der 4,1 Millionen Pflegedürftigen wollen hierzulande nicht ins Pflegeheim.

Sie sind froh, dass es Menschen wie Liana gibt, die bei ihnen wohnen und sich um sie kümmern können. Mit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts müssten Pflegebedürftige zu Hause allerdings von drei Kräften im Schichtbetrieb versorgt werden – wenn die Pflegekraft festangestellt ist. Dafür wären zwischen 9000 und 12.000 Euro im Monat fällig. Eine Summe, die das Budget der meisten alten Menschen sprengt.

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Pflegeexperte Fussek: ""Die osteuropäischen Frauen sind in der Regel auf sich gestellt"

Auffällig ist, dass einige Agenturen, die entsprechende Betreuungskräfte vermitteln, seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts den Begriff der "24-Stunden-Betreuung" vermeiden. Stattdessen schreibt beispielsweise die Augsburger Agentur "Vis-a-Vis" von "Betreuung in häuslicher Gemeinschaft". Es wird sogar explizit darauf hingewiesen, dass mit den Dienstleistungen der osteuropäischen Kräfte keine dauerhafte Bereitschaft einhergeht und ihre Arbeitszeiten bei maximal 45 Stunden pro Woche liegen.

"Wir achten seit Jahren darauf, dass unsere Kräfte einen legalen 40 Stunden Arbeitsvertrag erhalten, die Betreuungskräfte sind weit über dem deutschen Mindestlohn bezahlt", schreibt die Agentur auf Anfrage. Und weiter: "Unsere Betreuungskräfte wechseln sich alle zwei bis drei Monate ab, es entsteht Vertrauen und Nähe." Man stehe in engem Austausch mit der Politik, habe sich schon seit Jahren für die Legalität in der häuslichen Pflege stark gemacht.

Pflegeexperte Claus Fussek sieht solche Formulierungen kritisch. Er sagt zu FOCUS Online: "Die osteuropäischen Frauen sind in der Regel auf sich allein gestellt, stehen ständig unter Strom. Meist müssen sie sich um demente, unruhige Klienten kümmern." Im Prinzip wohl also doch ein Rund-um-die-Uhr-Job. Das BAG-Urteil findet er grundsätzlich richtig und wichtig. "In der Realität hat sich seitdem aber nicht wirklich etwas verändert."

Fussek findet Diskussion um 24-Stunden-Betreuung scheinheilig

Er selbst kenne viele Menschen, "die immer gegen diese Arbeitsverhältnisse argumentiert haben – bis jemand aus der eigenen Familie krank wurde", sagt Fussek. Ein Pflegeheim sei für die meisten keine Lösung gewesen, und so habe man sich dann doch für eine 24-Stunden-Betreuungskraft entschieden. Die Diskussion um die Dauer-Betreuung findet er daher "scheinheilig und unehrlich".

Letztlich gibt es keine schnelle Lösung für das Problem der Ausbeutung osteuropäischer Betreuungskräfte. Die neue Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag versprochen, "eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich" zu schaffen. Fussek findet eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema zentral. "Lösungen und Ideen müssen aus der Gesellschaft, aus der Pflege und von Angehörigen kommen. Sie müssen praktikabel und bezahlbar sein", sagt er. Damit könne man die Politik konfrontieren.

Liana jedenfalls will auch in Zukunft als 24-Stunden-Betreuungskraft arbeiten. Sie nennt ihren Beruf "ihr Hobby" und sagt: "Ich mache meinen Job gern. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt."

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