Psychoonkologe Carsten Witte: Warum Männer anders mit Krebs umgehen als Frauen

Vor elf Jahren traf Carsten Witte selbst die Diagnose Knochenkrebs. Er war zu diesen Zeitpunkt 24 Jahre alt. Durch die Diagnose krempelte er sein Leben um. Er gründete die Selbsthilfegruppe "Jung und Krebs" und engagiert sich dort ehrenamtlich. Auch beruflich orientiert er sich neu: Er holt sein Abitur nach, studiert Gesundheitspädagogik und hat sich zum Psychoonkologen weiterbilden lassen. Seit drei Jahren berät er Krebskranke in einer psychosozialen Sprechstunde im Zentrum für Strahlentherapie in Freiburg. Und erklärt, warum Männer anders mit einer Krebsdiagnose umgehen als Frauen.

Sie haben tagtäglich Kontakt mit Krebspatient:innen. Suchen sich viele krebskranke Männer Hilfe bei Psychoonkolog:innen?

Carsten Witte: In neun von zehn Fällen kommen Frauen in meine Beratung. Und die Männer, die in meine Beratung kommen, wollen eher praktische Tipps und kein klassisches Gespräch. Ein Problem ist auch, dass teilweise noch nicht mal in medizinischen Kreisen die Psychoonkologie bekannt ist. Auf einige Männer können schon die Begriffe Psyche und Gesundheit abschreckend wirken und eine sprachliche Barriere darstellen.

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Sie haben gesagt, dass schon die Wörter Gesundheit und Psyche Männer abschrecken würden. Warum?

Der Begriff Gesundheit ist dann abschreckend, wenn er sich auf Ernährung bezieht. In erster Linie schreckt in Bezug auf Krebs das Wort Psyche ab: Viele Patienten sagen, dass sie ja nur Krebs hätten und nichts am Kopf. Der Begriff Psyche wird mit Demenz oder psychischen Störungen gleichgesetzt. Doch durch eine Krebsdiagnose wird man(n) mit Dingen konfrontiert, die man normalerweise eher ausblendet. So ging es mir auch mit 24 Jahren als ich meine Diagnose erhielt. Wer an Krebs erkrankt, muss sich quasi zwangsläufig damit auseinandersetzen, dass er verwundbar ist und sein Leben endlich.

Das ein Mann sich eingesteht, dass er Hilfe benötigt, kann für ihn durch die Erziehung und das Rollenbild noch einmal schwieriger sein als für Frauen. Letztendlich sollten sich Krebskranke gar nicht eingestehen müssen, dass sie Hilfe benötigen. Für mich ist Krebs eine Systemkrankheit, die Körper, Seele und das soziale Umfeld betrifft. Und so kann auch das ganze Umfeld dazu beitragen, dass der Betroffene die Krankheit gut übersteht.

Wie können Angehörige und Freund:innen Erkrankte unterstützen?

Der Bestcase ist, sich zusammen an einen imaginären runden Tisch zu setzen und jeder bekommt eine Aufgabe. Eine Person wird zum Beispiel zum Sprachrohr des Erkrankten – so muss dieser nicht unzähligen Leuten sagen, wie schlecht es ihm heute geht. Eine andere Person wird Begleiter bei den Arztgesprächen. So ist der Erkrankte erleichtert, weil er sich nicht um alles allein kümmern muss und auch das soziale Umfeld ist erleichtert, weil jeder genau weiß, was zu tun ist.

Eine Krebsdiagnose ist für jeden erst mal ein Schock. Inwiefern gehen Männer anders damit um als Frauen?

Das lässt sich zwar nicht pauschalisieren, aber Männer nehmen sicherlich weniger Hilfe an als Frauen. Männer ziehen sich häufig mehr zurück. Frauen wird schon sehr früh in ihrem Leben beigebracht, dass sie auf Veränderungen in ihrem Körper achten sollten beziehungsweise sie müssen lernen, damit umzugehen. Wie das Einsetzen der Menstruation und regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen beim Frauenarzt.

Männer hingegen wurden nicht so erzogen. Schauen wir zum Beispiel auf den Prostatakrebs. Die Krankheit greift auch die Definition von Männlichkeit an: Bin ich noch ein richtiger Mann, wenn ich Erektionsprobleme habe und eine Windel tragen muss, weil Urintropfen abgehen?

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Wer sich fragt, warum sich Männer im November einen Oberlippenbart wachsen lassen, denkt vielleicht zunächst nicht an Gesundheit.

Die Movember-Foundation hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf die Männergesundheit aufmerksam zu machen. Im Fokus stehen dabei Hoden- und Prostatakrebs sowie psychische Probleme.

Welche Dinge helfen, gut mit einer Krebsdiagnose umzugehen?

Als ich damals meine Krebsdiagnose bekommen habe, war zunächst gar nicht klar, ob mein linker Arm zu retten ist, weil dort der Tumor saß. Als ich den behandelnden Arzt fragte, ob ich wieder Volleyball spielen könne, antwortete er, dass wir jetzt erst mal demütig seien müssten. "Erst retten wir Ihr Leben, dann Ihren Arm und dann sehen wir weiter." Es ist wichtig, demütig zu bleiben und sich nicht mit anderen zu vergleichen. Weder der Vergleich mit einem gesunden 20-Jährigen noch der mit einem noch kränkeren Menschen, ändert die eigene Situation oder macht sie besser. Es ist wichtig, auf sich selbst zu schauen. Auch ich selbst bin dankbar, dass ich noch lebe und meinen linken Arm noch habe. Klar, muss ich mit meinen 35-Jahren mit Einschränkungen leben, die ich lieber nicht hätte – aber mein Leben liegt noch vor mir. Ich habe genug Möglichkeiten, glücklich zu werden.

Wir müssen erst lernen, mit solchen Veränderungen klarzukommen, dabei können Psychoonkolog:innen helfen, aber auch der Austausch mit anderen Krebserkrankten. Zu erkennen, dass man mit seinen Problemen nicht allein ist, kann sehr heilend sein.

Gibt es Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen, die komplett dicht machen und sich niemandem anvertrauen können/wollen?

Dafür eignen sich digitale Angebote wie die "Mika-App" gut. Dort können Krebserkrankte – unabhängig von der Art der Erkrankung – selbst beobachten, wie es ihnen geht und ein Symptom-Tagebuch führen. Sie bekommen Wissen von Expert:innen an die Hand, können sich Ernährungstipps und Rat holen, um sich besser zu entspannen – zum Beispiel bei sogenannten Traumreisen.

Im Kern geht es darum, mithilfe der digitalen Unterstützung auch allein in der Lage sein zu können, mit seiner Krankheit und den Folgen klarzukommen. Es ist schwierig, mit der Belastung einer Krebserkrankung umzugehen. Für Menschen, denen es zunächst schwerfällt, sich anderen Personen zu öffnen, ist so ein Schritt-für-Schritt-Programm wie in der Anwendung die beste Lösung.

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Welche psychischen Folgen hat eine Krebserkrankung? Je nach Krebsart und Prognose kann eine Behandlung ja lange dauern.

Direkt nach der Diagnose kann es sich häufig so anfühlen, dass ein riesiger Berg vor einem liegt. Doch es wird sich nach und nach auch wieder lichten und lässt sich in kleinen Schritten bewältigen. Wir hier in der Strahlentherapie sitzen ganz am Ende einer Krebsbehandlung. In meinen Beratungen spreche ich oft darüber, wie es nach der akuten Behandlung weiter gehen kann. Viele denken, dass mit überstandener Behandlung, der Erkrankte wieder genauso ist wie vor dem Krebs – das ist aber nicht so. Die Behandlung der Psyche fängt eigentlich erst nach der körperlichen Behandlung an. Viele Menschen funktionieren während Bestrahlung, OPs und Chemo nur. 

Direkt nach Ende der Behandlung fallen viele Erkrankte in ein Loch und ich bereite die Menschen darauf vor. In 30 Prozent der Fälle entwickeln Erkrankte auch eine posttraumatische Belastungsstörung. Hier ist natürlich eine Therapie nötig.

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