Psychologe zu Trennungen während Corona-Krise: Vorsicht vor dem Grübelzirkel

In Zeiten von Corona steht auf einmal vieles auf der Kippe. Wie steht es um den Arbeitsplatz und um die eigene Gesundheit? Halt gibt in solchen Zeiten vielleicht nur noch die Partnerschaft – was aber, wenn es auch da kriselt, sogar das Beziehungsaus beschlossen wird? Was Frischgetrennte trotz fehlendem Alltag tun können, um die Zeit bis zum Exit aus der Krise auszuhalten, verrät der niedergelassene Diplompsychologe Michael Thiel im Interview.

Herr Thiel, Sie bieten auch Paarberatungen über Skype und Telefon an. Haben Sie derzeit mehr zu tun als sonst?

Nein, ich habe leider immer viel zu tun (lacht). Dass es jetzt durch Corona noch mehr explodiert, kann ich nicht sagen. Aber ich berate derzeit eine Frau, die noch mit ihrem Mann zusammenlebt, obwohl beide wissen, dass es nicht mehr läuft und sie fast schon getrennt sind. Durch die Corona-Krise sind sie jetzt mehr oder weniger 24 Stunden zusammen – für sie eine sehr nervige Situation. Zumal das Paar vorher schon versucht hatte, räumliche Distanz herzustellen, was jetzt aber gar nicht mehr geht. 

Wie ließe sich Abstand denn gewinnen, wenn man zusammenwohnt, rausgehen aber keine Option ist?

Es hört sich einfacher an als es ist: Man sollte darauf achten, dass jeder in der gemeinsamen Wohnung seinen eigenen Freiraum hat und man sich auch wirklich aus dem Weg geht. Man kann also zum Beispiel sagen: „Du belegst das Schlafzimmer mit deinen Sachen, ich gehe ins Wohnzimmer.“

Ein anderer, ganz wichtiger Punkt: Vor der Trennung gab es ja eine Zeit, in der man sich geliebt hat, vielleicht gibt es sogar gemeinsame Kinder. Diese Zeit sollte man sich gerade jetzt noch mal bewusst machen, genau wie die guten Seiten am jeweils anderen. Während der Trennung findet man häufig das Verhalten des anderen gar nicht gut, aber ihn als Person sollte man immer noch wertschätzen. Somit könnte man zumindest während der Corona-Maßnahmen einen Waffenstillstand erreichen.

Unglücklichen Paaren dürfte das in der aktuellen Ausnahmesituation noch schwerer fallen als ohnehin schon.

Tatsächlich kommt es durch Dichte-Stress oft häufiger zum Streit. In solchen Fällen rate ich zum sogenannten BANK-Modell. Das B steht für Beschreiben Sie das Verhalten, das Sie am anderen stört. Ich spinne mal rum: Du sagst überhaupt nichts mehr, wenn du reinkommst in die Wohnung. A steht für Auswirkung. Also etwa: Ich fühle mich von dir überhaupt nicht mehr wertgeschätzt. N steht für nennen Sie Veränderungswünsche. Das könnte in dem Fall sein: Auch wenn wir jetzt in der Trennung leben, möchte ich, dass wir respektvoll miteinander umgehen. Wenn du nach Hause kommst, sag vielleicht ein liebes Wort. Und K meint die Konsequenz: Wenn du dich ansatzweise so verhalten würdest, dann würde es mir besser gehen und dann können wir diese Corona-Zeit gut miteinander bewältigen.

Diplompsychologe Michael Thiel bringt Kindern in seinem Podcast „Hallo, ich bin Manfred!“ das Coronavirus näher und erklärt, wie sie jetzt mit Familienkonflikten umgehen können

Wenn jemand gerade Angst vor dem Jobverlust hat und dann noch der Partner als sicherer Hafen wegfällt, kommen womöglich enorme Zukunftsängste auf. Wie kann man damit umgehen?

Sicherheit ist das richtige Wort. Um psychisch einigermaßen gesund zu bleiben und gut durchs Leben zu kommen, brauchen wir das Gefühl, dass das Leben und die Zukunft für uns relativ sicher sind. Ich rate Menschen, die jetzt anfangen, in einen Blues zu geraten: Werden Sie aktiv, holen Sie sich Informationen. Was gibt es jetzt für Möglichkeiten für Zuschüsse, die ich beantragen kann? Wenn Sie sagen, ich möchte nicht allein bleiben, dann gehen Sie meinetwegen auch auf seriöse Partnerplattformen. Oder schauen Sie im Internet nach Gruppen, bei denen Sie Gleichgesinnte finden, mit denen Sie sich austauschen können. 

Eine andere Sache ist dieses Bewusstsein, dass diese Corona-Zeit irgendwann zu Ende sein wird. Im Moment müssen Sie diese Isolation, die schlechten Zeiten, überstehen. Aber danach wird es anders werden. Dazu passend ein weiser Satz von dem verstorbenen österreichischen Psychologen Viktor Emil Frankl: „Wer ein Warum im Leben hat, der erträgt fast jedes Wie.“ Wenn ich weiß, warum ich jetzt im Moment nicht rausgehen darf und allein bin – weil ich eben mich und andere Leute jetzt schützen muss vor diesem Virus – dann ertrage ich auch dieses Wie eine Zeit lang. Sie müssen sich immer wieder klarmachen, warum die Situation jetzt so ist und dass es definitiv eine Zeit danach gibt, die besser wird.

Gehen wir einen Schritt weiter und von einem kompletten Kontaktabbruch in einer Beziehung aus.  Denken Sie, dass die psychische Gesundheit in der Corona-Krise gefährdeter ist als sonst?

Wir Menschen sind von Natur aus Gruppentiere. Aus der Perspektive der Evolutionspsychologie kann man sagen, dass isolierte oder aus der Gruppe ausgeschlossene Menschen schon damals eine geringere Überlebenschance hatten. Nun leben wir nicht mehr in Höhlen und es sind auch keine Säbelzahntiger mehr hinter uns her. Aber dieses Gefühl ausgestoßen zu sein und nicht mehr mit anderen Leuten in Kontakt kommen zu können, ist genauso schlimm wie damals. Und ja, da gibt es Menschen, die sowieso schon eher isoliert, eher allein sind – die haben jetzt das Gefühl: Jetzt kann und darf ich noch nicht mal rausgehen. Das ist gerade für Personen, die unter Vorerkrankungen wie Depressionen oder Ängsten leiden, wie ein Vergrößerungsglas.: Es wird immer alles viel schlimmer. Das erlebe ich auch in der Beratung.

Was raten Sie solchen Patienten?

Pflegen Sie Ihre Netzwerke! Wir haben Handys, wir haben das Internet, wir haben Skype und Co. – sehen Sie zu, dass Sie sich mindestens einmal am Tag mit Menschen beschäftigen, die Ihnen wohlgesonnen sind. Das ist zwar nicht dasselbe wie ein Face-to-face-Kontakt, aber es beruhigt ein wenig. Wir müssen das Gefühl haben, dass wir dieser Situation nicht vollkommen hilflos und allein ausgesetzt sind. Das gilt im Übrigen für jeden, aber für alleinstehende Menschen gerade aktuell umso mehr.

Wer jetzt plötzlich wieder allein ist, hat besonders viel Zeit zum Nachdenken und Grübeln. Wie können Verlassene diese negativen Gedankenschleifen stoppen?

Man nennt das psychologisch tatsächlich auch Grübelzirkel, man grübelt also immer wieder über dasselbe nach. Nach Trennungen sind das oft Fragen wie: Finde ich noch jemanden, bin ich vielleicht schuld an der Trennung? Hat mich überhaupt irgendjemand noch lieb oder bin ich so blöd, so hässlich, dass ich niemanden mehr abbekomme? Wenn dieses Grübeln den ganzen Tag Ihren Kopf einnimmt, dann rate ich dazu, sich bewusst zwei Zeitpunkte am Tag zu nehmen, an denen man an einem bestimmten Ort ganz intensiv über die Paarbeziehung, die Vergangenheit und die Zukunft nachdenkt. In der Regel werden Sie zu keiner Lösung kommen, der Kopf raucht, vielleicht weinen Sie auch und sind traurig. Und dann hauen Sie auf den Tisch und sagen: „So, jetzt ist gut“ – und dann beschäftigen Sie sich konzentriert und bewusst mit etwas ganz Anderem.

Was kann noch helfen?

Versuchen Sie, Ihr Selbstwertgefühl aufzutanken. Machen Sie sich selbst Gedanken, was Ihre guten Eigenschaften sind, wo Sie selbst sagen: Da bin ich okay. Schreiben Sie sich das auf, machen Sie sich kleine Zettelchen und hängen Sie die gut sichtbar irgendwo hin.

Ein anderer wichtiger Punkt – und das gilt für alle Menschen derzeit: Machen Sie am Tag wenigstens eine Sache, bei der Sie das Gefühl haben, dass sie Ihnen richtig gut bekommt. Führen Sie darüber eine Liste. Das kann von Käsekuchen backen bis Gitarre spielen gehen. Versuchen Sie, sich aus diesem Pool von guten Sachen mindestens eine am Tag zu gönnen. Das mag jetzt vielleicht ein bisschen einfach oder sogar kitschig klingen. Aber wenn Sie das ernst nehmen, kann es schon helfen. Machen Sie sich letztlich bitte klar: Wenn es Ihnen und Ihrem Familien- und Bekanntenkreis gut geht, dann ist das im Moment das Wichtigste überhaupt. 

Tipps für die Zeit zu Hause

Das guckt die Redaktion: Zehn Sitcom-Tipps für Fans der leichten Unterhaltung

Manche Menschen verarbeiten eine Trennung, indem sie mit Freunden durch die Bars ziehen. Das ist momentan nicht möglich. Haben Sie Tipps, wie sich Betroffene stattdessen ablenken können?

(lacht) Also zunächst rate ich generell davon ab, Kummer mit Alkohol oder sonst was zu betäuben – damit verdrängen Sie den Schmerz nur für kurze Zeit. Ich hoffe, dass jeder von uns mindestens einen Freund oder Verwandten hat, bei denen er weiß: Der hilft mir, den kann ich anrufen und den nerve ich dann auch nicht, wenn ich noch mal über die Trennung rede. Fordern Sie das ein. Sagen Sie den Leuten, „es tut mir leid, ich weiß, das kann dich nerven, aber ich muss das jetzt nochmal mit dir besprechen, sonst explodiere ich“. Dann erzählen Sie vielleicht eine Viertel- oder halbe Stunde davon, ehe Sie versuchen, wieder auf andere Themen zu kommen.

Es ist wichtig, nicht in diesem scheinbar unlösbaren Dilemma stecken zu bleiben. Lassen Sie ruhig auch die Emotionen zu. Jede Trennung fühlt sich letztendlich wie ein kleiner Tod an. Gott sei Dank ist derjenige hoffentlich noch da und gesund, von dem man sich trennt, aber es muss eine Art von Trauerphase stattfinden. Und dazu gehört, dass Sie erstmal realisieren, dass der andere tatsächlich nicht da ist. Dazu gehört auch, den damit einhergehenden Gefühlen Raum zu geben. Dann wird irgendwann auch die Realität kommen und Sie können sagen: Es war eine gute Zeit und er oder sie bleibt in meinem Herzen. Aber wir haben uns getrennt und jetzt bin ich wieder offen für neue Beziehungen.

Und wenn die Emotionen anfangs zu viel sind?

Es ist vollkommen in Ordnung, wenn man sich psychologisch ganz intensiv ablenkt – nur meine ich damit explizit nicht Alkohol oder Drogen. Tauchen Sie stattdessen in Ihr Lieblingsspiel, Ihre Lieblingsserie, Ihr Lieblingsbuch ab. Das Gehirn braucht diese Erholungsphasen, damit es nicht vollkommen überlastet und durchdreht. Es ist also okay zu sagen, die Situation ist jetzt belastend und ich habe auch Angst, aber ich denke das nicht 24 Stunden durch. Gönnen Sie sich diese Pausen. Irgendwann tauchen Sie wieder auf und denken darüber nach, wie Sie weitermachen. Vielleicht suchen Sie sich auch professionelle Hilfe. Es gibt genug Eheberater, die das auch per Telefon anbieten. Lassen Sie sich da coachen und versuchen Sie, schon mal einen Plan für die Zeit nach der Corona-Krise und der Trennung zu machen.

Haben Sie persönlich den Eindruck oder die Vermutung, dass die Krise mehr Paare auseinanderbringt oder diese eher zusammenschweißt?

Es gibt beide Richtungen. Was ich persönlich derzeit erlebe: Meine Frau und ich sind schon über 30 Jahre zusammen und wir genießen die Zeit der Zweisamkeit gerade sehr. Jeder macht durchaus seinen eigenen Kram, aber wir freuen uns auch, mal so richtig Binge-Watching zu betreiben. Die andere Richtung ist, dass die Konflikte in Beziehungen und Familien jetzt nochmal verdeutlicht werden. Vorher konnte man sich aus dem Weg gehen – allein dadurch, dass man zur Arbeit oder in die Schule musste. Jetzt fehlen diese Ausweichmanöver und dann kommen unterdrückte Konflikte häufiger und intensiver hoch – dann kracht es auch häufiger. Ich denke schon, dass Scheidungsanwälte nach Corona ein bisschen mehr zu tun haben werden.

Angenommen jemand denkt gerade darüber nach, die Beziehung zu beenden. Durchziehen oder lieber warten?

Ich persönlich würde warten. In der jetzigen Situation, wo niemand weiß, wie es weitergeht, brauchen wir das Gefühl von Sicherheit. Generell ist es jetzt nicht ratsam, eine existenzielle Lebensentscheidung zu treffen. Wenn wir sowieso schon unter Stress sind, können wir schlecht logisch denken. Das müssen wir aber, um unserem Leben eine neue Wendung zu geben und um die Zukunft nachher realistisch zu planen. Hier kann wieder das BANK-Modell helfen, indem man dem Partner sagt:

„Ich habe das Gefühl, wir leben nebeneinander her. Das was vielleicht an Liebe da war, das spüre ich nicht mehr und ich habe auch das Gefühl, wir kriegen das nicht mehr gebacken.“ Wenn Sie Glück haben, wirkt es wie ein Warnschuss, und Sie können noch mal überlegen, ob die Beziehung vielleicht doch zu retten ist.

Und wenn Kinder mit im Spiel sind? Wie können die mit Streit zwischen den Eltern umgehen?

Ganz wichtig ist für Kinder, dass sie eine Person haben, mit der sie sich unterhalten können, wenn es Stress und Streit gibt – zum Beispiel Oma oder Opa, einen Lehrer, die Nachbarin oder die Tante. Dass Kinder also den Mut haben, wenn es die Eltern nicht hinkriegen, sich an einen anderen Erwachsenen zu wenden. Von dem sie wissen: Der liebt mich so wie ich bin und der hilft mir.

Auch Kinder haben Probleme, die können sie nicht weg reden. Aber ein Kind hat das Recht darauf, dass ihm geholfen wird – das versuchen meine Frau und ich auch mit unserem Podcast „Hallo, ich bin Manfred“. Der soll in Zeiten von Corona Unterstützung geben, auf kindliche Art und Weise. In den Folgen geht es auch passend zum Thema um Streit und Gewalt in der Familie oder Angst. Dazu haben wir bei den meisten Folgen und auf der Website zum Podcast entsprechende Notfallnummern für Probleme angegeben – zum Beispiel die Nummer gegen Kummer 116 / 111.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Alles über Corona

News zur Corona-Pandemie

Weil sie die Schutzregeln missachten: Schwedens Regierung droht Gaststätten mit Schließung

stern Reisewelten

Westeuropa Kreuzfahrt ab Hamburg mit All Inclusive ab 499 Euro

Musikalisches Comeback

Überraschung! Rolling Stones veröffentlichen ersten neuen Song seit acht Jahren – hören Sie ihn hier

USA

"Leichensäcke" vor Trump-Hotel: Protestaktion gegen Corona-Politik des US-Präsidenten

Schein und Sein

Von Telefunken bis Grundig – das etwas andere Comeback der Marken der Wirtschaftswunderzeit


Coronakrise

An alle, die jetzt unter Menschen gehen: Seid ihr eigentlich komplett bescheuert?

Geschlossene Moscheen

Ramadan im Ausnahmezustand: Wie das Coronavirus den Fastenmonat beeinträchtigt

Fallzahlen zu Covid-19

Wie sich das Virus in Deutschland ausbreitet und welche Altersgruppen besonders betroffen sind

Maske auf!

Banksy-Kunstwerk trägt jetzt Gesichtsmaske – doch wer hat das Werk ergänzt?

Coronakrise und Konkurse

Fluglinien im Krisenmodus: Immer mehr Airlines melden Insolvenz an


Corona-Statistik

Chinas Zahlenspiele – wie viele Menschen sind dort wirklich infiziert?



"Maybrit Illner" im ZDF

Lockdown, Hygiene oder beides? "Es sind Experimente, die wir jetzt machen"

News zur Corona-Pandemie

Merkel will erst am 6. Mai mit Länderchefs über weitere Ladenöffnungen beraten

"Die Stunde Null"

Billionen neue Schulden – droht eine hohe Inflation?


Kreative Idee

Frau trägt Penismaske, damit Menschen ihr nicht zu nahe kommen – Tausende sind begeistert


Florida

Mit einem Herzen aus Streifenwagen: Polizisten danken Krankenhausmitarbeitern

Forschung zu Covid-19

"Möglicherweise könnte Sars-CoV-2 auch zu Schäden an anderen Organen führen"

Geisterstadt Cerro Gordo

Mann kauft alte Bergbaustadt – und verbringt die Pandemie ganz allein im Nirgendwo

Schwedisches Modell

Stockholmer Ärztin über die Pandemie: "Schweden und Deutschland sind nicht vergleichbar"


Immense Herausforderungen

"So geht es nicht, Leute!" Wütende Eltern protestieren unter #CoronaEltern

Zwiespalt im Freundeskreis

Corona, meine Freunde und ich: "Du nimmst das echt ernst, oder?"


Quelle: Den ganzen Artikel lesen