Lebensgefahr auf dem OP-Tisch

„Mein Kiefer schmerzt“, sagt der 52-Jährige, der am Howard University Hospital in Washington D.C. Hilfe sucht. Die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen stellen schnell fest: Der Unterkiefer des Mannes ist gebrochen. Der Patient berichtet, dass er zwei Tage zuvor angegriffen wurde.

Der 52-Jährige hat einige Erkrankungen: Er leidet an Diabetes Typ 2, ist mit Hepatitis C infiziert und hat Bluthochdruck. Wegen des Diabetes nimmt er Metformin, gegen den Bluthochdruck Lisinopril. Vor einigen Jahren mussten Ärzte ihm eine gutartige Geschwulst im Brustbereich entfernen, dies geschah unter örtlicher Betäubung. Der Mann raucht seit Jahrzehnten – im Schnitt etwa eine Packung pro Woche.

Zwei Tage später findet die OP statt, in der die Chirurgen den Kiefer reparieren wollen. Vor dem Eingriff erhält der Mann intravenös Antibiotika, um einer bakteriellen Infektion vorzubeugen, berichtet das Team um Oluwole Fadahunsi im „Journal Oral of Maxillofacial Surgery“. Was dann geschieht, beschreiben sie auf die Minute genau.

Am Anfang scheint alles normal

15.52 Uhr: Der Patient wird in den OP-Saal geschoben. Er erhält fünf Mittel, um die Narkose einzuleiten: Midazolam, Fentanyl, Propofol, Rocuronium und Succinylcholin. Anschließend intubiert ihn ein Mediziner, um ihn während des Eingriffs künstlich zu beatmen.

16 Uhr: Der Narkosearzt verabreicht dem Mann über die Beatmung das gasförmige Anästhetikum Desfluran. Der Patient erhält noch zusätzliche Dosen einiger weiterer Mittel.

16.32 Uhr: Die Operation beginnt. Zuerst scheint alles normal zu verlaufen.

17 Uhr: Eine knappe halbe Stunde später registriert der Narkosearzt jedoch einen ungewöhnlichen Wert. Die Kohlendioxid-Menge, die der Mann ausatmet, steigt an. Die Sauerstoffsättigung des Bluts liegt aber weiter im Normalbereich, das Herz schlägt im gewünschten Tempo, auch der Blutdruck ist stabil.

In der folgenden halben Stunde nimmt die Kohlendioxid-Menge in der Ausatemluft immer weiter zu, außerdem beginnt das Herz des Mannes, schneller zu schlagen. Seine Körpertemperatur, die gerade noch bei 35,3 Grad Celsius lag, beträgt nun 36,3 Grad Celsius.

17.45 Uhr: Der Zustand des Patienten hat sich weiter verschlechtert. Den Chirurgen fällt auf, dass ein Kaumuskel, der sogenannte Musculus masseter, verkrampft ist.

Der Narkosearzt hat nun eine Vorstellung davon, woran der Patient leidet und in welcher Gefahr er schwebt. Er sagt den Chirurgen, dass sie die Operation umgehend beenden müssen, schaltet die Desfluran-Zufuhr ab und fordert einen weiteren Narkosearzt zur Verstärkung an.

Während die Chirurgen die letzten nötigen Handgriffe ausführen, setzt der Anästhesist dem Mann eine Maske an und beatmet ihn, um ihn mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Außerdem verabreicht er dem Patienten eine Dosis des Wirkstoffs Dantrolen, der Muskeln entspannt.

17.52 Uhr: Die Chirurgen beenden den Eingriff. Für die Narkoseärzte beginnt nun die wirklich kritische Phase. Sie legen sofort Kühlpacks rund um den Körper des Patienten.

18 Uhr: Die Temperatur des Mannes steigt trotz dieser Maßnahme auf 39,1 Grad Celsius. Sein Herz rast mit 173 Schlägen in der Minute, sein Blutdruck ist bedrohlich angestiegen und liegt bei 200 zu 100. Die gute Nachricht: Der Kohlendioxid-Wert in der Ausatemluft sinkt wieder.

Nach und nach pendeln sich auch die anderen Werte wieder ein, das Herz schlägt langsamer, die Temperatur sinkt, der Blutdruck ebenfalls. Für die weitere Behandlung bringen die Narkoseärzte den Patienten auf die chirurgische Intensivstation.

Der 52-Jährige hat eine sogenannte maligne Hyperthermie, übersetzt eine bösartige Überhitzung. Das Problem ist genetisch bedingt, bei Betroffenen lösen bestimmte Narkosemittel verheerende Reaktionen in den Muskelzellen aus. Die Zellen werden im Prinzip dauerhaft aktiviert, weshalb der Energie- und Sauerstoffverbrauch sprunghaft steigt.

Infolgedessen erhöht sich die Körpertemperatur. Ebenso steigt der Kohlendioxidwert im Blut, wodurch es zu einer gefährlichen Übersäuerung kommt. Später können die Muskeln sich durch die Überbelastung sogar zersetzen, was sonst zum Beispiel durch extreme und einseitige Belastungen beim Sport passieren kann.

Mit dem Wirkstoff Dantrolen, der die Muskeln entspannt, lässt sich dem gefährlichen Problem entgegenwirken. Viel besser ist jedoch, bereits vor einer OP unter Vollnarkose zu erkennen, ob Patienten eine Veranlagung zur malignen Hyperthermie besitzen.

Seine Schwester starb beinahe

Ein deutliches Warnzeichen ist, wenn Verwandte die Diagnose erhalten haben, weil die Ursache genetisch bedingt ist, also vererbt wird. Im Nachgang erinnert sich der Mann, dass seine Schwester vor einigen Jahren bei einer Operation unter Vollnarkose beinahe gestorben wäre. Vor seinem Eingriff verneinte er noch die Frage, ob in seiner Familie OP-Komplikationen bekannt sind.

Besteht der Verdacht einer malignen Hyperthermie, lässt sich dieser durch Tests vor der OP abklären. Anästhesisten können dann eine Narkose ohne jene Substanzen durchführen, die zu den Problemen führen.

Der Patient erholt sich vollständig von dem gefährlichen Zwischenfall. Die Ärzte erklären ihm, warum die Vollnarkose für ihn so gefährlich war. Außerdem warnen sie seine Verwandten: Falls bei ihnen ein Eingriff unter Vollnarkose nötig sei, sollten sie den Ärzten unbedingt berichten, dass sie möglicherweise eine maligne Hyperthermie entwickeln.

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