Kleine Schraube, großes Problem

Das Zahnimplantat war als besonders einfaches System angepriesen worden: Es sollte auch von unerfahrenen Zahnärzten leicht einzusetzen sein und direkt mit Zahnersatz belastet werden können. Doch 2006 – da war das Implantat bereits zwei Jahre auf dem Markt – machte es Schlagzeilen: Zwei schwedische Professoren gingen an die Öffentlichkeit, weil das von einem der Marktführer hergestellte System überdurchschnittlich oft scheiterte. In 20 bis 25 Prozent der Fälle habe es zu einem deutlichen Knochenabbau geführt.

Der Fall liegt zwar Jahre zurück. Das Besondere aber ist: Wirklich passiert ist danach nichts. Dass es sich um Mangelware handelt, ist publik geworden. Normalerweise verschwinden fehlerhafte Systeme wieder vom Markt, ohne dass die Betroffenen darüber informiert werden, dass ihr Implantat schlechter ist als versprochen. Auch heute noch, auch in Deutschland.

„Noch immer werden fragwürdige Zahnimplantat-Systeme mit viel Werbung und ohne ausreichende wissenschaftliche Dokumentation in den Markt gedrückt“, kritisiert der Kieferchirurg Martin Bonsmann, Fortbildungsbeauftragter der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie.

Gesundheitsschäden sind meldepflichtig

Es klafft eine Lücke zwischen Anwendung, Beobachtung und Kontrolle: Laut Medizinprodukteverordnung sind Hersteller oder (Zahn-)Ärzte zwar verpflichtet, einen Produktmangel zu melden, wenn dadurch ein schwerwiegender Gesundheitsschaden entstanden ist oder entstehen könnte. In der Praxis wird diese Vorschrift aber offenbar nachlässig umgesetzt.

„Nach Schätzungen der Industrie werden in Deutschland rund 1,3 Millionen Zahnimplantate pro Jahr gesetzt“, sagt Frank Schwarz vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Implantololgie (DGI). „Wenn nur in 0,1 Prozent der Fälle Probleme auftreten würden, müssten beim zuständigen Bundesinstitut jährlich 1000 Meldungen eingehen.“

Tatsächlich erhielt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) von Januar 2016 bis Dezember 2018 insgesamt 878 Meldungen zu Zahnimplantaten. Beim weit überwiegenden Teil davon stellte sich „kein systematischer Produktfehler als Ursache für ein Problem heraus“, sagt BfArM-Sprecher Maik Pommer.

Zwischen 2005 und 2016 waren 1448 Meldungen zu Dentalimplantaten eingegangen, wovon laut BfArM nur 73 Fälle auf einen Produktionsfehler oder Designmangel zurückgeführt werden konnten. Diese Definition bilde aber das Problem mit manchen Innovationen nicht ab, kritisiert Thomas Dietrich, Leiter der Abteilung Oralchirurgie an der Universität Birmingham: „Das CE-Verfahren für Medizinprodukte verlangt keinen Effektivitätsnachweis in kontrollierten klinischen Studien. Die Implantologie hat sich wesentlich auch durch ,Trial and Error‘ am Patienten entwickelt.“

Hersteller gewährt kostenfreien Ersatz

Und nicht nur Frank Schwarz ist sich sicher: „Es wird viel zu wenig gemeldet.“ Auch Martin Bonsmann meint: „Viele Zahnärzte wissen von dieser Meldepflicht nichts. Und andere unterlassen es schlicht, weil eine Neu-Implantation schon aufwendig genug ist und eine Meldung keinen Vorteil bringt.“ Zahnärzte schickten stattdessen defekte Implantate meist direkt an den Hersteller und bekommen kostenfrei Ersatz. „Das ist eine Blackbox“, sagt Schwarz. Der ehemalige DGI-Präsident betont aber auch: „Die Krux bei Zahnimplantaten ist: Wir wissen nicht, wie viele Probleme oder Verluste auf das Medizinprodukt zurückzuführen sind.“

Fehler beim Implantat seien etwa Brüche, Risse oder Defekte in der Schraube. Insgesamt sechs Rückrufe eines Herstellers sind auf der BfArM-Webseite veröffentlicht, bei einigen Implantaten fehlt etwa das Innengewinde.

Aber wenn ein System nicht einheilt oder nach Jahren eine Entzündung auftritt, habe das meist andere Gründe und falle nicht unter die Meldepflicht. „Scheitern kann ein Implantat auch bei einem guten System“, so Schwarz, „zum Beispiel wegen handwerklicher Fehler des Zahnarztes.“ Dazu könnten falsche Positionierung zählen und Probleme beim Knochenaufbau. Auch die Mundhygiene des Patienten spiele eine entscheidende Rolle ebenso wie andere Faktoren wie Rauchen, ein schlecht eingestellter Diabetes oder eine Parodontitis.

Auf ihrem Jahreskongress im November empfahl die DGI angesichts der Debatte um unzureichend kontrollierte Medizinprodukte, Zahnimplantate zu verwenden, „die wissenschaftlich dokumentiert und deren Langzeiterfolg in klinischen Studien nachgewiesen wurde“.

Kein Register für schlechte Implantate

Da mehr als 200 verschiedene Implantatsysteme auf dem Markt seien, riet die Fachgesellschaft Patienten, ihren Zahnarzt zu fragen, ob für das empfohlene System der Langzeiterfolg wissenschaftlich belegt ist. Die CE-Kennzeichnung sei „per se leider kein Beleg für eine klinische Dokumentation“. Vor problematischen Systemen warnen könne die DGI aus juristischen Unwägbarkeiten allerdings nicht, sagt Schwarz.

Doch selbst wenn Probleme gemeldet werden, erfahren Patienten davon häufig nichts. Der Grund: Es existiert kein zentrales Register für Zahnimplantate. Wer welches eingesetzt bekommen hat, weiß nur die behandelnde Praxis. Der Patient selbst kann es mitunter im Implantat-Pass nachlesen, in dem System und OP-Zeitpunkt vermerkt werden.

Röntgenbild eines Unterkiefers: Ein Implantat (links) ist mit Einzelkrone versorgt, dahinter zwei gebrochene Keramikimplantate

Aber solch ein Pass ist keine Pflicht. Die Folge: Weder Patient noch neuer Zahnarzt wissen, was im Mund verbaut wurde. Immer wieder stellen Zahnärzte daher Röntgenbilder mit problematischen, ihnen unbekannten Zahnimplantaten auf Fachseiten zur Diskussion und bitten um kollegiale Hilfe mit der Frage, um welches es sich handeln könne.

Die Idee eines einheitlichen Registers für Zahnimplantate hat die Europäische Vereinigung für Osseointegration (European Association for Osseointegration, EAO) vorigen Herbst zwar diskutiert. Aber eine Umsetzung ist noch in weiter Ferne. Wie viele Zahnimplantate in Deutschland wirklich gesetzt und wie viele wann warum verloren gehen, weiß man schlicht nicht. Selbst ein Implantate-Register, wie es die Bundesregierung nun übergreifend für Medizinprodukte plant, würde nicht weiterhelfen, da Zahnimplantate als Privatleistung nicht erfasst werden.

In Schweden wurde der Fall vor 13 Jahren ausgesprochen koordiniert gelöst: Die Aufsichtsbehörde für Medizinprodukte (MPA) bestätigte kurz nach Veröffentlichung der Mängel, dass das Implantat bei manchen Patienten zu unerwartet starkem Knochenschwund führte, und empfahl, die Vermarktung bis zur Änderung der Verkaufsunterlagen einzustellen. Der Implantat-Typ solle solange nur mit Zurückhaltung angewendet werden, bis verlässliche Langzeitresultate vorlägen. Eingesetzt worden war das System da schon mehr als 60.000-mal.

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